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Kultur: Peter Pan spielt E-Gitarre

Er hält sich für den ältesten Teenager der Welt: Rockmusiker Rudi Protrudi, Kopf der Fuzztones, lebt in Berlin

Ein sonniger Dezembermittag, Hackescher Markt. Der perfekte Tag für eine dunkle Sonnenbrille.

„Hmm“, knurrt Rudi, „I’m wearing ’em all the time! No matter the weather!“ Selbstverständlich. Wen kümmert das Wetter? Rudi ist Rockstar. Das sieht man auf den ersten Blick. Wie er durch die Tür kommt, wie er das Café betritt: Das ist Rudi Protrudi, Sänger und Gitarrist der legendären Fuzztones. Ein großer, schlanker Mann mit schwarzem Mantel, dunklem Paisley-Hemd, schwarzer Lederhose, schwarzen Beat-Stiefeln, langen, dichten, tiefschwarzen Haaren und eben jener dunklen Sonnenbrille, die er immer trägt.

Die Optik symbolisiert einen Sound, Rudis Sound, Fuzztones-Sound: Sechziger-Jahre-Beat, roher Rhythm & Blues, eingängige Pop-Harmonien, treibendes Tempo, grobe Riffs, Westcoast-Psychedelia. Verzerrte „Phantom“-Gitarren werden durch alte „Vox AC 30“-Verstärker gejagt, um „Teenage-Angst“ und Lebensfreude zu wecken. HochspannungsRock’n’Roll war es, mit dem Rudi und seine Fuzztones schon zu Beginn der achtziger Jahre eine gewaltige Welle rebellischer Energie in angesagte New Yorker Clubs wie den Mudd Club und das CBGB’s spülten. „Garage Revival“ wurde der Stil in Anlehnung an den alten Mythos genannt, nach dem ehrliche Rockmusik in leeren Autogaragen entsteht.

Seit 26 Jahren ist Rudi Protrudi die Inkarnation der Fuzztones, deren restliche Besetzung immer wieder gewechselt hat. „Das ist mein Beruf. Das wird immer mein Beruf bleiben“, sagt er und meint: Rock’n’Roll-Berufung.

Protrudi lässt sich fallen in einen breiten, bequemen Sessel. Ein Interview mit einer seriösen Tageszeitung? „That’s great!“, sagt er, nimmt die Sonnenbrille ab und lächelt entwaffnend aus sanften, dunklen Augen. Es sei ja nun auch an der Zeit, dass er vom „ernsten Feuilleton“ gewürdigt werde als einer der letzten Bewahrer eines großen Lebensstils. Nur: Über sein Alter redet er nicht, auch nicht übers Älterwerden. Warum? „I’m the world’s oldest teenager!“, entfährt es ihm mit tiefer, weicher Stimme, derselben, mit der er auf der Bühne zum ekstatischen Shouter wird. „Warum sollte ich je erwachsen werden? Wer sagt, dass man mit 30 seine Jugendträume begraben muss? Dass man nichts mehr infrage stellen darf, dass man sich anpassen muss? Sind die großen klassischen Rock’n’Roller je erwachsen geworden? Chuck Berry? Jerry Lee Lewis? Nee! Aber sie sind immer noch da – and they’re still fantastic!“

Mit ansteckender Begeisterung spricht Protrudi von seinen Idolen und über seine ungebrochene Leidenschaft für die Musik. Mit zwölf avancierte „Roll Over Beethoven“ von den Beatles zum Lieblingssong des Jungen aus Harrisburg, Pennsylvania. Als er entdeckte, dass das Original von Chuck Berry war, kaufte er sich dessen Platten vom Geld, das er mit Rasenmähen in der Nachbarschaft verdiente. Protrudi lernte Gitarre spielen. Er wollte sein wie Chuck Berry. „Ich wollte sogar seine schwarze Hautfarbe haben!“ Protrudi lacht. „Ziemlich komisch, wenn man bedenkt, dass ich in einer Gegend aufwuchs, in der nur erzkonservative, weiße Rednecks lebten. Und da, mittendrin, hab ich mir vorgestellt, Chuck Berry zu sein. Ich fühlte mich als Außenseiter. Später haben sie mich dort oft verprügelt wegen meiner langen Haare.“ Aber, fährt er mit Blick auf Jerry Lee Lewis fort, „so bin ich auch. Rückschläge und Niederlagen spornen mich zum Weitermachen an. Ich habe einen ungebrochen starken Willen. Jerry Lee Lewis ist mein größtes Vorbild!“

Protrudi hat ebenfalls einiges an Erfolgen und Rückschlägen erlebt. Seine Eltern ließen sich scheiden, als er die Beatles entdeckte. Fortan fuhr ihn nur noch die Mutter zu den Plattenläden, in denen er sich mit Nachschub versorgte. Bald darauf bezog er einen Wohnwagen in der Nähe des Harrisburger Atomkraftwerks. Seine Mitbewohnerin war eine drei Meter lange Boa constrictor. Kurz nachdem er den Trailer Park verlassen hatte, flog der Atommeiler in die Luft. Später wurde Protrudi gefeiert von Fans und Musikpresse. Aber er lebte auch jahrelang von Sozialhilfe.

Er war zu Gast als Rockstar bei Larry King, in einer der größten US-Fernsehshows. Er hat eine Menge Platten verkauft, und er wurde von Plattenfirmen und Veranstaltern übers Ohr gehauen. Er wurde in den besten New Yorker Clubs verehrt und hatte gleichzeitig zu kämpfen mit der Kälte und Härte einer Stadt, in der Gewalttätigkeiten an der Tagesordnung waren. „Es herrschte eine Mischung aus extremer Kreativität und ständiger Bedrohung. Ich lebte in der Lower Eastside, als es wirklich gefährlich war. In den zehn Jahren, die ich dort verbrachte, erlebte ich jede Menge Gewalt: Messerstechereien, Vergewaltigungen, Morde. Als ich dann weggezogen bin, war mein letztes New-York-Erlebnis ein Toter, der auf der Straße lag. Ich hab seinen Puls geprüft, die Polizei gerufen und bin in meinen Van gestiegen, um weiterzufahren.“ Nach Kalifornien. Los Angeles. Doch Protrudi hat die Härte der Straßen von New York in seiner Musik mitgenommen.

Neue Stadt, neues Leben, neue Fuzztones. „In Los Angeles war das Wetter wunderbar, die Menschen waren freundlich und fröhlich. Aber die Musikszene war so laid back, entspannt, fade und faul, dass es wirklich einfach war für uns, in L. A. quasi über Nacht die größte Band ohne Plattenvertrag zu werden.“ Protrudi hatte noch die nervöse Getriebenheit, den Ehrgeiz, den Tatendrang der New Yorker Szene im Blut. Er blieb fünf Jahre. Dann war die Westküstenmetropole langweilig geworden. Und wer weiß, was dann wieder schiefgegangen ist.

Jetzt lebt Protrudi in Berlin und folgt damit den Spuren von Bowie, Iggy Pop und Nikki Sudden. Über Europa und insbesondere Berlin sagt er: „Hier hab ich überall mehr Freiheit erlebt, mehr geistige Offenheit als in den USA, wo die Menschen alles schlucken, wo keiner mehr gegen irgendetwas protestiert. Wo die Leute sich nur noch für Angelina und Brad interessieren, für iPods, Chatrooms und Playstations. Wenn du ihnen das wegnimmst, würden sie sich vielleicht auflehnen. Aber ein Krieg? Globale Erderwärmung, Umweltverschmutzung? Darum kümmert sich in den USA kein Mensch.“

Protrudi setzt die schwarze Sonnenbrille auf, zieht den Mantel an. Er muss noch zum Physiotherapeuten. Er hat sich die Schulter ausgekugelt. Und will doch fit sein bis zum nächsten Konzert. Dass er das Mikrofonstativ wieder durch die Luft wirbeln kann. Dass er wild sein kann auf der Bühne. Heute in Berlin. Morgen in Hamburg. Und übermorgen sonstwo. Es geht weiter. Immer weiter.

The Fuzztones spielen heute im White Trash Fast Food, 20 Uhr (Schönhauser Allee 6/7, Prenzlauer Berg).

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