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© Imago

Petra: Erweckung und Erlebnis

Logenplätze für die Geister: Der Tod und das Theater – eine uralte Liaison. Eine Osterreise in die Felsenstadt von Petra.

In dem wunderbaren Buch „Die Wüste und die alten Götter“ stellt der britische Biologe Julian Huxley eine Liste seiner persönlichen Traumziele auf. Die Insel Bali gehört dazu, Machu Picchu in den peruanischen Anden, die Tempel von Angkor Wat, die „große antarktische Eismauer mit ihren Vulkanen, Pinguinen und den merkwürdigen polaren Himmelserscheinungen“, Peking ist dabei und die Sahara – „und Petra, von allen mein ältester Wunschtraum“.

Julian Huxley bereiste 1948 als Generalsekretär der Unesco den Nahen und Mittleren Osten. So kam er schließlich in die verborgene antike Felsenstadt am Rande der jordanischen Wüste, auf halbem Weg vom Toten Meer zum Golf von Akaba. Und während sein Bruder Aldous Huxley den Alptraum einer totalitären „Schönen neuen Welt“ ausmalt, taucht Julian tief ein in die Geheimnisse der alten Zivilisationen rings um das Heilige Land. Sein Reisebericht ist, wie so viele wunderbare Bücher, längst vergessen und vergriffen. Doch Julians Fernweh-Liste hat sich als prophetisch erwiesen, und auch Bruder Aldous hat es geahnt: Weltwunderwerke wird man eines Tages überall buchen, sie sind Sehnsuchtsorte für Millionen geworden. Die Tourismusindustrie erfüllt Träume schnell und effektiv.

Als Huxley „auf jämmerlichsten Kleppern“ in Petra einreitet, die Beduinen laufen lachend nebenher, hat man dort schon die ersten Hotels errichtet. Eines dieser Gästehäuser soll unmittelbar beim Amphitheater gestanden haben. Diese ersten touristischen Anlagen sind längst abgerissen, die Besucher haben heute freie Sicht auf die Totenstadt der Nabatäer, die zu Christi Zeiten hier herrschten. „Petra ist der herrlichste Ort der Welt“, schwärmt T. E. Lawrence (von Arabien), man könne es gar nicht beschreiben, nur erleben.

Petra, früh am Morgen: Steinerne Fassaden, die in den weichen Farben eines Mark Rothko glühen. Ein gewaltiges Areal mit einer somnambulen Aura. Und von all den in den roten Fels gehauenen Bauwerken, die zugleich klassische Eleganz und barocke Dekadenz ausstrahlen, bietet das Theater von Petra den verrücktesten und rätselhaftesten Anblick.

In den Berg hinein- und aus dem Berg herausgemeißelt, haben die 40 Sitzreihen einmal bis zu 7000 Menschen Platz gegeben. Eine so mächtige Theateranlage in unmittelbarer Nachbarschaft der majestätischen Totenhäuser ist allein schon einzigartig. Was für ein Auftrieb muss das gewesen sein, welch ein Heidenspektakel, wenn zu römischer Zeit hier Vorstellungen über die Bühne gingen. Die Toten werden sich vor Lust oder Ärger im Grab umgedreht haben!

Der Tod und das Theater: eine uralte rituelle Gemeinschaft. Wie die Poesie, so ist die Tragödie aus Totenklage und der Beschwörung der Götter entstanden. Aber diese Wurzeln lagen auch damals schon in finsterer Vergangenheit, als das Amphitheater von Petra entstand. Der amerikanische Archäologe Philip Hammond – er legte die Theaterruine 1963 gänzlich frei – schätzt die Bauzeit der fantastischen Anlage auf rund 30 Jahre, vom Jahr 4 v. Chr. bis zum Jahr 27 n. Chr. Sie fällt damit ziemlich exakt in den Berichtszeitraum der vier Evangelien. Weiter nördlich lehrt Jesus seine Botschaft, vollbringt bühnenreife Wunder, sammelt Gefolgschaft und fügt sich allmählich in seine Passion, während in Petra der Schlaf der Toten durch den Baustellenlärm des Theaters gestört wird. 2000 Jahre später dreht Steven Spielberg in dieser Felslandschaft „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“; Harrison Ford auf wilder Jagd nach dem Heiligen Gral, verfolgt von schießwütigen Nazis.

Wie nahe die Toten in Petra dem Theater sind, wie bruchlos die Ränge in das Schattenreich hinübergleiten, erkennt man aber auf den zweiten Blick. Seltsame schwarze Löcher klaffen in der Rückwand über den letzten Sitzreihen. Die rechteckigen Öffnungen wären in einem modernen Theater die Dolmetscherkabinen oder der Technikraum, wo Beleuchtung und Ton gefahren werden, der Platz für das Regiepult. Tatsächlich handelt es sich um Grabkammern, letzte Ruhestätten mit Panoramablick. Im Theater von Petra haben die Toten die besten Plätze.

Nirgendwo sonst auf der Welt findet man Theater in Gräbern – und Gräber im Theater. Die aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung scheint vollkommen erfüllt. Im Theater von Epidaurus auf dem Peloponnes genießt man die feinste Akustik, im Teatro Greco von Taormina die umwerfende Kulisse des Ätna. Das Theater der Toten in Petra strahlt etwas anderes aus. Eine stille Magie. Man spürt den Sog der Unterwelt, die hier einen so erhabenen oberirdischen Zugang hat, die Bühne überbrückt die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits. Theater als Mimesis des Nichts, der absoluten Leere. Und plötzlich wird einem bewusst, dass die Klassiker erst einmal und immer wieder nur tote Namen sind, tote Worte, tote Geschichten, tote Figuren, die der Auferweckung harren, von Aischylos bis Heiner Müller. „Die Hähne sind geschlachtet. Der Morgen findet nicht mehr statt“, heißt es in Müllers „Hamletmaschine“.

Im Theater sprechen die Lebenden mit den Toten, und im Unterschied zu Artefakten im Museum antworten im Theater die lange Verblichenen auf direkte Art und Weise: Sie bekommen im Spiel ihre Stimme wieder. Eine Theateraufführung gleicht ja einer Wieder-Heraufführung, wie es Orpheus im Mythos mit seiner geliebten Eurydike versucht – und scheitert.

Wissenschaftler haben darüber gestritten, ob Petra eine reine Totenstadt war oder ein belebtes antikes Zentrum. Ob auf der Felsenbühne tatsächlich Schauspiele aufgeführt wurden. Und dabei spielt es ja keine Rolle, ob es Komödien oder Tragödien waren. Der Archäologe Avraham Negev meint, das Theater habe eine „rituelle Funktion im Bestattungskult“ der Nabatäer erfüllt. Diese Theorie verstärkt die Theatralik aber nur: Danach hätten die Nabatäer, dieses seltsame halbnomadische Volk, in griechischer Hanglage mit römischen Maßstäben ein Amphitheater in ihrer Hauptstadt errichtet, an der Hauptstraße von Petra, um dort Begräbnisfeierlichkeiten abzuhalten, deren Charakter und Verlauf leider nicht überliefert sind.

Sollten es dunkel-dionysische Umzüge gewesen sein, mit rituellem Menschenopfer und demonstrativer Rückkehr ins Leben, wie in den „Bakchen“ des Euripides? Schließlich haben die nabatäischen Gottheiten viereckige, ins Abstrakte übergehende Gesichter, ähnlich wie bei griechischen Theatermasken.

Petra, diese weit auseinandergezogene Stadtanlage, scheint noch tief im Boden vergraben. Drei schwere Erdbeben haben es schon in der Antike verschüttet. Überall blitzen überraschende Funde auf: Am großen Tempel entdeckt man hoch oben auf Säulen fein gearbeitete Elefantenköpfe. In der byzantinischen Kirche aus dem 5. Jahrhundert sind herrliche Mosaiken erhalten – Vögel, Wildschweine, Giraffen, griechische Gottheiten und das Bild einer jungen Frau, die eine Brust entblößt hat und über der anderen einen großen Fisch im Arm hält. Erst vor zehn Jahren wurde diese Kirche mit ihren Bodenschätzen ausgegraben.

Je länger man sich hier aufhält, umso klarer schält sich ein Gedanke heraus: All diese Tempel, diese Monumente bilden ein steinernes Ensemble, ein gefrorenes Bühnenbild, ein Mysterienspiel, das in einem einzigen dramatischen Moment angehalten wurde. Der Rest ist Schweigen, Erosion. Die letzten einheimischen Darsteller des Dramas waren Beduinen, die in den Gräbern und zwischen den Ruinen wohnten, Jahrhunderte lang. Die jordanischen Behörden haben sie in einiger Entfernung in neuen Dörfern angesiedelt.

„Vergnügen in einem Friedhof! Ein Theater inmitten von Gräbern!“, rief einer der wissenschaftlichen Begleiter Julian Huxleys aus, als sie durch die lange, schmale Schlucht, den Sik, nach Petra hineingeritten waren, die ersten monumentalen Felstempel erblickt und schließlich den breiten Platz erreicht hatten, wo sich linkerhand das dionysische Maul des Theaterrunds öffnet.

Die Gräber waren wohl schon da, als das Theater gebaut wurde. Die Toten besitzen ältere Rechte. Im Theater von Petra besetzen sie die Logen. Aber diese Gräber sind offen, sind leer, wie das Christusgrab am Ostersonntag. Die Zuschauer sind gegangen. Daher diese unfassbare Stille, dieses lärmende Schweigen, dieser unsichtbare Vorhang, der hier über allem schwebt.

Das letzte und zugleich das theatralischste der Wunder, die Jesus der staunenden Menge vorführt, ist die Auferweckung des Lazarus: Generalprobe für die Auferstehung zu Ostern. Danach wird er verraten und verhaftet, abgeurteilt, hingerichtet. Es beginnt die Geschichte des Christentums, mit dem die antike Theatertradition für lange Zeit abbricht. In der grundsätzlich optimistischen christlichen Sicht auf die Welt, schreibt George Steiner in „Der Tod der Tragödie“, ist für das Tragische nur wenig Platz. Mit der Auferstehung ist das Drama aus.

Rüdiger Schaper

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