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Kultur: Petting für Blinde

Es ist ein bekannter Topos der Literaturgeschichte, daß das Schreiben eine Verbindung zu den Grenzen des Sichtbaren und des Sagbaren unterhält.In der phantastischen Literatur schuf der Autor Reiche jenseits der Sichtbarkeit; die erotische Literatur träumte von sexualisierten Welten jenseits der Sagbarkeit.

Es ist ein bekannter Topos der Literaturgeschichte, daß das Schreiben eine Verbindung zu den Grenzen des Sichtbaren und des Sagbaren unterhält.In der phantastischen Literatur schuf der Autor Reiche jenseits der Sichtbarkeit; die erotische Literatur träumte von sexualisierten Welten jenseits der Sagbarkeit.Als Meister beider Reiche gilt der berühmt-berüchtigte Marquis de Sade (1740-1814).Seine sprachlichen Ausschweifungen setzten sich über alle sagbaren Tabus hinweg - und taten dies in so unvorstellbarer Weise, daß seine erotische Literatur ans Unvorstellbare grenzt.

Man hat des öfteren bemerkt, wer de Sade lese, müsse eigentlich angesichts der Ungeheuerlichkeit des Beschriebenen erblinden.Dieses Wort hat sich der Berliner Stefan Thiel zu Herzen genommen.In über drei Jahren übertrug er das berühmteste und skandalöseste Werk Sades, "Die 120 Tage oder die Schule der Ausschweifung", in die Blindenschrift.Man liest die ungeheuerlichen Monströsitäten de Sades also nicht mit dem Verstand, sondern mit den Fingern.Das ist ein genialer Wurf.Man könnte eine ganze Theorie der Entmachtung des Auges, der Dezentrierung des Blicks und der Zerstörung des abendländischen Panoptismus an diese Intervention hängen.

Doch Thiel bleibt sachlich wie ein perforiertes Blatt.Kein Wunder.Denn die "120 Tage" de Sades sind kein erotischer Roman, sondern eine mathematische Abhandlung der Perversionen - daher auch die Langeweile, über die fast jeder Leser früher oder später berichtet.In einem Schloß im Schwarzwald, ausklingendes Rokoko, geben sich 36 Personen viermal 150 mehr oder minder sadistischen Ausschweifungen hin.Die insgesamt 600 "Fälle" notierte Sade auf einer insgesamt zwölf Meter langen und nur elf Zentimeter breiten Papierrolle, die er während seiner Gefangenschaft in der Bastille 1783-85 beschrieb.Die Saftigkeit der Taten steht also der Trockenheit ihrer Schilderung umgekehrt proportional gegenüber.

An diese Trockenheit lehnt sich die Ausstellung bei Koch & Kesslau an.In der Galerie nimmt die Enzyklopädie der Perversionen eine ganze Regalwand in Anspruch.Stolz wie Brockhaus.Und fast ebenso vielbändig: Auf 25 Bände bringt es der Blindenporno.1800 Blatt.Ein ganzes Jahr brauchte der ehemalige Buchbinder Thiel für sein Opus Magnum.Nun will er einen stolzen Preis dafür: 25 000 Mark soll die gelochte Körperöffnungsprosa kosten.Da schaut man lieber in die Vitrine und wohnt einer skatologischen Entjungferung in Punktform bei (Band 13, 15.Tag der Ausschweifung).

Allein die Übertragung de Sades in ein anderes System von Schrift würde erwartbare Interpretationen auf den Plan rufen.Man würde von der Fremdheit der modernen Literatur sprechen, und man würde de Sade zu deren Vorgänger machen.Man würde den fremdsprachigen de Sade zum eigentlichen erklären und seine Ausstellung für das einzig Richtige halten.Doch Thiel geht über die literaturwissenschaftliche Koketterie hinaus.Ihm geht es nicht um Effekte der Fremdheit, sondern um Erfahrung von Sinnlichkeit.Er will der abstrakten Sprache der Literatur die konkrete Sinnlichkeit des Erotischen wiedergeben.Sein "literarisches Relief" versucht genau die Erotisierung von Sprache, an der de Sade gescheitert war.Die Buchstaben sind in der Braille-Schrift der Blinden nicht abstrakte Zeichen, sondern Instrumente des Taktilen.Man erfährt von den Berührungsexzessen nur, wenn man das Papier streichelt.Das zweidimensionale Petting erweckt die Frivolität des Lesens.

Galerie Koch & Kesslau, Weinbergsweg 3, bis 10.April; Donnerstag bis Sonnabend 16-20 Uhr.

KNUT EBELING

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