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Kultur: Pferde stehlen

„Die Frau vom Meer“ im Maxim Gorki Theater

Am Ende, als sich Ellida zwischen dem unheimlichen Fremden und dem Arzt, der ihr Gatte ist, also zwischen dem Romantischen und dem Reellen entscheiden muss, schnappt sich Anja Schneider das Mikrofon und führt ein Drama der Überforderung auf: „Mir fällt doch schon beim Bäcker das Entscheiden schwer. Vollkornbrot, das Scheiße schmeckt oder Croissant, das dick macht?“ Flugs fragt sie das Publikum. Gehen!, sagt jemand. Bleiben!, sagt eine andere. „Ach!“, stöhnt die „Frau vom Meer“. Dunkel. Schluss. Alle Fragen offen. Angeblich.

Das Ende ist albern und unstimmig, denn das Schöne an diesem Abend ist, dass Armin Petras sich sehr wohl entschieden hat. Zwei Stunden lang trompetet seine Inszenierung gutgelaunt: Wir sagen ja zum Croissant! Also zu Romantik, Abenteuer und dem Glauben an die Wahrheit des unmittelbaren Gefühls. Zwei Stunden Spielcharme, Witz und leuchtende Augen, bis sich der Zuschauer ergibt und den Schlagerfan von der Leine lässt. Zwei Stunden „Verliebt in Berlin“, und dann dieses quasi intellektuelle Ende! Ellida hätte gehen müssen! Wenn schon Schnulze, dann richtig.

Eine Frau lebt mir ihrem Mann und dessen Töchtern aus erster Ehe ein Vorzeigeleben. Doch die Frau ist unglücklich, wie immer bei Ibsen. Etwas brodelt in Ellida. Ist es eine Erinnerung oder eine ominöse Sehnsucht nach Meer und Auflösung? Beides, behauptet das Stück. Durch eine frühe Verlobung ist sie einem Seemann versprochen, den sie für tot hält. Durch ihre Kindheit auf einem Leuchtturm ist sie freilich auch anfällig für die saugende Tiefe des Blau. Was tun, als der frühe Verlobte (Michael Klammer) plötzlich aus der Vergangenheit?

Das Stück wäre gern ein klassisches Enthüllungsdrama, kommt aber über eine anspruchsvolle Boulevardkomödie mit Anleihen im Symbolismus (Ibsen schrieb es 1888) nicht hinaus. Man kann als Regisseur kürzen und nach Tiefe tauchen oder in die Breite inszenieren und Spaß haben. Petras wählt letzteres. Er zeichnet die Figuren nicht, sondern überzeichnet sie leichthändig (Gunnar Teuber trägt als Künstler Lyngstrand langes Haar und Badelatschen, Horst Kotterba als Doktor Wangel geckenhafte Seidenanzüge), lässt ironisch deklamieren, singen, tanzen und videofilmen, ohne – das ist die Überraschung – die Gefühle der Figuren zu verraten. Am Ende einer Szene wartet immer kindlich anmutende Ergriffenheit, die Petras mit diebischer Freude präsentiert. Anja Schneider spielt Ellida sprunghaft, mit Werther-haftem Glühen und Blindheit für die Nöte ihrer Stieftöchter. Anika Baumann als Hilde krächzt sich nassforsch durch ihre Verunsicherung, während die famose Hilke Altefrohne als Bolette an der Seite des Studienrats der Provinzhölle entkommt.

Langsam zeichnet sich ab, warum das neue Maxim Gorki Theater eine Premiere nach der nächsten raus bringt. Es ist nicht nur die Angst vor der Leere des Anfangs, die Petras durch Aktionismus zu durchspielen sucht. Durch die vielen Inszenierungen entsteht gerade das, wofür die Volksbühne in den 90er Jahren so berühmt war: ein Ensemblegeist! Etwas Unsichtbares, das über den einzelnen Abend hinausgeht und auf das Publikum eine ähnliche anziehende Wirkung ausübt wie das Meer auf Ellida. Bei Castorf war das die Poesie des Kaputten. Mit Petras´ Ensemble kann man dagegen Pferde stehlen, und in seiner Brust bollert das Herz eines Siebzehnjährigen.

Wieder am 29. November sowie 15. und 29. Dezember

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