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Kultur: Phantomlyrik: Jan Wagner vervierfacht sich

Schon Wolfgang Hildesheimer und der Portugiese Fernando Pessoa wandelten in vielerlei Identitäten einher. Soeben glaubten wir noch, dass ein von Ralph Dutli entdecktes unbekanntes Genre der Weltpoesie – anzügliche mittelalterliche „Fatrasien“ aus Frankreich – der Gipfel aller närrischen Erfindungen sei, da setzt Jan Wagner mit seinen „drei Verborgenen“ noch eins drauf.

Schon Wolfgang Hildesheimer und der Portugiese Fernando Pessoa wandelten in vielerlei Identitäten einher. Soeben glaubten wir noch, dass ein von Ralph Dutli entdecktes unbekanntes Genre der Weltpoesie – anzügliche mittelalterliche „Fatrasien“ aus Frankreich – der Gipfel aller närrischen Erfindungen sei, da setzt Jan Wagner mit seinen „drei Verborgenen“ noch eins drauf. Als virtuoser Spieler auf der Klaviatur traditioneller Formen ist er durch vier Gedichtbände bekannt geworden. Im fünften Band gelingt ihm ein Coup: Er präsentiert sich zum Vergnügen des Lesers mit vierfachem Ego.

Getarnt als Herausgeber, stellt er die Verse dreier unbekannter Dichter vor, jeweils mit Einführungen in Leben und Werk, Werkverzeichnis sowie Glossar und Kommentar. Das ist so perfekt arrangiert, dass die „Verborgenen“ als überaus plastische Erscheinungen, eingebunden in soziale Herkunft oder in den Nebel des Flüchtigen, dem Leser leibhaftig vor Augen stehen. Ihre individuelle Denk- und Gefühlswelt erscheint sinnlich-konkret, und doch sind die drei wohl einzig und allein Wagners Kopf und Herz entsprungen. Da ist der naive bodenständige Bauerndichter Anton Brant, der ins Korsett des Anagramms und der Einsamkeit eingeschnürte Theodor Vischhaupt und das Phantom Philipp Miller, das als Elegienschreiber durch Rom geistert. Trickreich hat der Herausgeber sie aus dem poetischen Hut gezaubert, und nun sind sie in der Welt und beschäftigen das Publikum.

Getreu der Erkenntnis, dass Lyrik nur einen kleinen Anhängerkreis hat, besteht dieses auch hier zunächst nur aus wenigen Leuten: des Bauern Ehefrau, eine Eintagsbekanntschaft im Fundbüro, ein Bettler und eine Verkäuferin im Optikerladen. Die Landlyrikverse des Anton Brant, darunter sprachpräzise dargebotene Kostbarkeiten wie „Das Sauen“, „Kröten“ und „Das Heu“ hat ihr Verfasser prompt in grotesk anmutenden Zeitschriften wie „Die Wurzel. Literaturzeitschrift des Verbandes Deutscher Gemüsezüchter“ oder „Grubbe und Egge. Jahresschrift des Schwäbischen Erntemaschinenverbandes“ veröffentlicht. Sowohl die lyrischen Ergüsse der „Verborgenen“ als auch ihre Schicksale bewegen sich zwischen Komik und Tragik. Ihre Tode sind passend.

Der Landmann plumpst in den Dorfteich, der Anagrammdichter verheddert sich in seinen Kopfgeburten und nimmt sich das Leben, der geheimnisumwitterte Romreisende und Elegienschreiber entpuppt sich als Biedermann. Aber vielleicht war alles auch ganz anders? Der eigentliche Reiz des Buches aber liegt in der Parodie der per Zufall in Gang geratenden Maschinerie des Verlags- und Literaturbetriebes. Die drei werden vermarktet und von ehrgeizigen Sekundärliteraten ausgeschlachtet, was das Zeug hält. Sind sie nicht zu Prototypen umgemodelte Trends: der reimende Naturdichter Brant, der pedantisch mit Buchstaben schnippelnde Lautjongleur Theodor Vischhaupt, dessen Anagrammgedicht von den „Eulenhassern in den Hallenhäusern“ für den Buchtitel herhielt, und der Romreisende, der auf Goethes Spuren die Vergänglichkeit bedenkt?

Jan Wagner spielt sprachpräzise und fantasievoll mit Klischees. Liebevoll hat der Autor Widerhaken und winzige Webfehler in ihre Verse eingeschleust. Beißende Satire aber spricht aus den aufgeblähten Fehden der Literatur- und Sprachwissenschaftler im germanistischen Apparat, in den Kommentaren und Quellenangaben. Welch eine herrliche Parodie auf die Zunft. Dorothea von Törne

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