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Philharmonie: Teilchenbeschleuniger

Maurizio Pollini spielt Debussy, Chopin und Boulez in der Philharmonie.

„Wenn ich morgens aufwache und das Programm des Abends sehe, möchte ich mich darauf freuen“, hat Maurizio Pollini einmal gesagt. Das ging ihm diesmal wohl nicht so. Kurz vor knapp wurden Debussys „Etudes“ ausgetauscht gegen sechs der populäreren „Préludes“. Pollini kann nichts für die Gedankenlosigkeit, ja Kaltschnäuzigkeit der veranstaltenden Staatsoper, die diese Änderung in der Philharmonie keineswegs per Aushang bekannt gab. Wer kein Programmheft mit Korrekturzettel erwarb, war entweder auf gute Repertoirekenntnis angewiesen oder hielt die „Versunkene Kathedrale“ für Etüde Nr. 6. Gotik im Dreiachteltakt. Das wäre mal was Neues.

Diese Irritation ist allerdings nichts gegen eine, die Pollini an diesem Abend als Interpret mit Chopins „Préludes“ op. 28 bewirkt. Der Geistesfürst des Klavierspiels war es, der mit 18 Jahren in Warschau das Chopin-Spiel in eine neue Dimension katapultiert hat, mit einer Technik, deren Präzision man „Furcht einflößend“ fand und die sich mit jener analytischen Klarheit verband, aus der mit den Jahren ein immer weiterer Horizont entstand. Mehr Denker als Dichter, hat Pollini (nicht nur) Chopin aus dem Salondämmer in hellstes Licht geholt. Nun aber erlebt man den 68-Jährigen als einen Pianisten, der manuell wie mental nicht bei der Sache ist. So verhuscht, wie er das erste „Agitato“ hinwischt, bleibt vieles.

Unterbelichtet sind die Basskonturen der drängenden Nr. 8, in der man vergeblich auf jene Farbnuancen wartet, wie Pollini sie sogar in rasendsten Skalen realisieren kann. Nr. 12 bringt ihn technisch an Grenzen, die früher nicht existierten. Das schmerzt ebenso wie ein „Presto con fuoco“ (Nr. 16), dessen rasend aufsteigende finale Sechzehnteldoppelkette im Nebel eines Pedals verschäumt, das Chopin gerade da nicht haben will. Im Schlussstück, wenn dem jagenden Gesang der rechten Hand die unerbittliche Motorik der Linken gegenübersteht, bleibt von letzterer nur ein Schatten. Auch von Pollini würde wenig mehr bleiben, würde er nicht hier und da Inseln der Versenkung schaffen.

Im As-Dur-Allegretto erblickt man einen fahlen Dämmerhimmel, wie ihn Kinder über Sonntagshöfen sehen. Der schlichte Gesang des c-Moll-Largos weitet sich zur Hochebene der Melancholie, deren letzten Akkord Pollini so hart setzt, als griffe ein anderer in die Tasten und sage „Schluss jetzt“. Dass Pollini Schluss macht, will wohl keiner, und seine schwankende Fokussierung ist keineswegs nur physisch bedingt. Schon vor 16 Jahren erlebten die Berliner Ähnliches in seinem Beethoven-Zyklus.

Wer mutmaßte, er habe Debussys „Préludes“ wegen ihrer leichteren Spielbarkeit den „Etudes“ vorgezogen, darf bei Pierre Boulez’ zweiter Sonate umdenken. Es wäre eine Untertreibung, die Talentexplosion des damals 23-jährigen Komponisten eine sauschwere Herausforderung für Musiker zu nennen. Pollini selbst hat dieses Früh-Stück des Serialismus in einer legendären Aufnahme als Genietat in Stratosphärenhöhe durchgesetzt. Das Klavier wird zum Teilchenbeschleuniger des Geistes. Es ist verblüffend, diese Musik nun von einem Menschen mit nicht mehr als zehn Fingern gespielt zu sehen. Da sitzt bei Pollini jeder Ton.

Dass die eisige Unberechenbarkeit fehlt, die sich aus der totalen Durchkonstruktion ergibt, ist keine Schwäche; es ist Pollinis Vertrautheit. Eine persönliche Rezeptionsgeschichte klingt in diesen Tönen mit – und eine Freundschaft. Am Ende bittet er den Komponisten aufs Podium. Da steht Pierre Boulez mit seinen 85 Jahren, zierlich und stabil, und Maurizio Pollini neben ihm, gebeugt, erschöpft, dankbar applaudierend. Die Ovationen für den Pianisten zeigen, dass jeder hier begreift, was er auf sich nimmt. Und dass man ihn auch dafür liebt, sich ganz zu zeigen, schwach und stark.

Volker Hagedorn

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