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Philosophie: Das Rätsel menschlicher Monaden

Der 83-Jährige verpackt seine Weisheit in lakonische Anekdoten.: Claude Lanzmanns Berliner Lektion.

„Ich denke auch, ich habe einige Deutsche getötet“, sagt er fast zu Beginn seiner Berliner Lektion im Renaissance-Theater. Nur keine Floskeln. Claude Lanzmann hat durch Filme über Israel, über den Holocaust („Shoah“) und eine KZ-Revolte („Sobibor“) das Thema „Jüdische Identität“ so radikal wie kein anderer Regisseur bearbeitet. Seine Unerbittlichkeit, mit der diese Dokumentationen das Nichts als Resultat der Vernichtung und den dramatischen Bruch mit der Rollenzuschreibung vom jüdischen Opferlamm reflektieren, liefert für das Matinee-Publikum die Folie seines Ruhms. Wir reisen mit ihm ins deutsch besetzte Frankreich, wo seine Mutter versteckt überlebte, wo der Schüler Claude für die Resistance Anschläge verübt und deutsche Philosophie studiert; besonders Leibniz, dessen System beinhaltet, jedes Individuum sei als Monade verschlossen „in seiner eigenen Totalität, ohne Türen und Fenster“ zur Monade nebenan.

Der 83-Jährige verpackt seine Weisheit in lakonische Anekdoten. Als Tübinger Philosophiestudent erlebt er 1948, dass „Deutschland keineswegs zerstört worden war, wie man behauptete“. Auf dem Gut einer Adelsfamilie: ein Gespensterdinner mit Wehrmachtsgenerälen. Beim Spaziergang gerät er mit der verstörten (später zu Aktion Sühnezeichen flüchtenden) Baroness in das angrenzende ehemalige KZ Stuttgart-Vaihingen. Er hat „Angst vor dem Osten, vor den Plätzen des Todes, in den Spuren jener zu gehen, die nicht zurückgekehrt sind“; wird trotzdem Lektor an der neu gegründeten FU, Mitarbeiter des französischen Kulturinstituts. Der Chauffeur seines Dienstkäfers knallt die Hacken („Zu Befehl, Herr Lanzmann“) und bespitzelt ihn für die Franzosen und die FU, „einen Schlupfwinkel alter Nazis“. Sein angeblich politisches Antisemitismus-Seminar bringt Streit mit der alliierten Zensur. Er sieht die Trümmerfrauen, genießt in Kudammsalons halbzerstörter Häuser Neureichen-Parties, bei denen Gräfinnen sich als Huren anbieten. Er sieht in den Straßen die DP’s, KZ-Überlebende, „die als unberührbar galten, alles schmuggelten, über dem Gesetz standen; einige wurden extrem reich“. Manche, sagt Lanzmann, schufen sich und der Jüdischen Gemeinde ein neues Leben in Deutschland.

Kantiger Vortrag. Trockener Humor. Subtile Poesie. Seine Enthüllung über den braunen Filz der FU wurde im Westen nicht gedruckt, aber in der Berliner Zeitung. Durch seine SBZ-Reportage 1949 in Le Monde wird Sartre auf ihn aufmerksam. Nun schreibt Lanzmann für Temps Modernes, „die Wende für mein Leben“. Er sei von Anfang an verliebt gewesen in das „Rätsel Berlin“. Wenn der Erzähler über Orte oder Personen redet, skizziert er deren Gestern oder Morgen. Er plädiert wider alle Hoffnung dafür, Berliner Schnitte, Schichten, Leeren nicht zuzubauen. 1948, sagt Lanzmann, habe er von jüdischer Tradition nichts gewusst. Heute betrachte er die Assimilation als Notwendigkeit, zugleich als Zerstörung. Seine Lektion über das Rätsel menschlicher Monaden wird zur Sternstunde der Erinnerung. Thomas Lackmann

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