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Kultur: Piano forte!

Wuchtig: Fazil Say im Konzerthaus

Fazil Say ist als Pianist ein wenig das, was Fatih Akin als Filmemacher auszeichnet: ein Vollblutkünstler, bei dem das Temperament im Zweifel mehr zählt als das perfekte Handwerk. Gegen die Wand, mit vollem Risiko, ohne Rücksicht auf Werktreue, aber mit Hingabe an das Wesen eines Werks – so präsentiert er im Konzerthaus einen furiosen Bach, einen entfesselten Beethoven und Mussorgkys „Bilder einer Ausstellung“. Herzenswut und Seelenglut, Ekstase und totale Herausforderung: Says Hitzköpfigkeit tut gut gegen die klirrende Berliner Kälte.

Schon Bachs Chaconne aus der d-MollPartita, in der Klavierbearbeitung von Ferruccio Busoni, klingt nach russischer Schule. Ein Berserker-Bach mit bärenstarken Bässen. Fazil Say summt mit, wirft den Kopf nach hinten, trägt die Töne auf Händen und schaut den Akkorden mit ausgebreiteten Armen nach, wenn sie dem Korpus des Flügels entschweben. Zen oder die Kunst, Bach zu beschwören.

Dass seine abrupten Lautstärke- und Tempowechsel zu verpatzten Übergängen führen, dass er im Kopfsatz von Beethovens Sturmsonate und bei Mussorgskys „Hütte der Baba Yaga“ gehörig danebengreift – egal. Für Fazil Say ist Musik allemal zum Anfassen da, weniger Tongemälde als Skulptur. Der Pianist betätigt sich als Bildhauer, das Gewicht der Welt hängt an jedem seiner Schläge. Deshalb dominieren die tiefen Lagen, deshalb seine Vorliebe für insistierende Ostinati und für exzessiven Pedalgebrauch: wegen der Unerbittlichkeit, mit der er zum Kern der Kompositionen vorzudringen sucht. Zum schicksalhaft Unversöhnten bei Beethoven, das die Innigkeit des Adagios wie eine vergebliche Liebesmüh einschließt, oder zur Archaik Mussorgskys.

Die Leidenschaft des 40-jährigen türkischen Pianisten hat etwas Utopisches. Sie stiftet nicht nur Aufruhr, sondern zaubert auch berückende Klangschönheiten herbei, vor allem in den „Bildern einer Ausstellung“. Die kontemplative Demut in „Das alte Schloss“, die Zurücknahme allen Machtgehabes auch in den lyrischen Passagen der „Katakomben“ lässt ahnen, dass der Furor nur dazu dient, die kostbare Stille im Auge des Orkans zu ergründen. Per aspera ad astra.

Mehr als eine Utopie: Die Hälfte des Publikums spricht türkisch. Der Pianist, der aus seiner Kritik an der wachsenden Islamisierung seines Landes keinen Hehl macht, sprengt im Konzerthaus die Grenzen des Klassikbetriebs und begeistert ein deutsch-türkisches Bürgertum. Die integrierte Gesellschaft, so könnte sie aussehen. Say bedankt sich mit zwei eigenen Kompositionen, seinem orientalisierenden Stück „Black Earth“ und einer gewitzten Ragtime-Fantasie über Mozarts AllaTurca-Rondo. Christiane Peitz

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