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Picassos ehemalige Muse heißt heute Lydia Corbett, ist 79 Jahre alt und selbst Künstlerin.

© Deike Diening

Picassos unbekannte Muse: Sylvettes Geheimnis

Als Picasso sie sah, wollte er nichts anderes mehr malen. Zwei Monate lang war das Mädchen mit dem Pferdeschwanz seine Muse. 60 Jahre später kehrt sie zurück an den Ort, wo ihr Leben Kunst wurde. Und in ein paar Tagen auch nach Bremen.

Ende März 2013 landete im Briefkasten eines Atelierhauses im ländlichen Devonshire, England, ein Brief von Christoph Grunenberg, Direktor der Bremer Kunsthalle. Würde sie, so als Muse, gerne alle Sylvette-Werke noch einmal zusammen sehen? Man plane eine Ausstellung, mehr als 50 Werke Picassos, viele aus Privatsammlungen, die meisten noch nie gezeigt. „Darauf hatte ich die letzten 60 Jahre gewartet!“ Lydia Corbett, ehemals Sylvette David, ihres Zeichens Muse, kann die unwahrscheinliche Rundung ihres Lebens so kurz vor dem 80. Geburtstag kaum fassen. Dieser Brief verbindet nun die 50er Jahre mit der Gegenwart und einen kunsthistorischen Glücksfall mit ihr.

„Picassos Häuser“ und „Picassos Frauen“ sind in dickbäuchigen Anthologien versammelt, seine Kunstwerke hängen in den wohltemperierten Sammlungen der Welt. Von Picassos Friseur in Mougins ist überliefert, dass er sogar des Malers Fingernägel und Bartstoppeln in einer Schachtel sammelte.

Vollkommen unwahrscheinlich ist es also, dass bei diesem auserzählten Jahrhundert-Künstler noch etwas zu entdecken ist, ein eigenständiger, nie aufgearbeiteter Werkzyklus gar. Ebenfalls unwahrscheinlich, dass die Muse, die ihn dazu inspirierte, inzwischen 79 Jahre alt, noch kreuzfidel in England lebt. Alive and kicking. Seit 35 Jahren malt sie selbst.

Eine Reise in die Vergangenheit

Das Wunder wird perfekt, als sie bereit ist, sich nach 60 Jahren zusammen mit ihrer Tochter Isabel auf eine Reise in ihre Vergangenheit zu begeben, an den Beginn einer freien Nachkriegszeit, unter das stetig strahlende Licht der Côte d’Azur, wo sie auf der Schwelle zu Picassos Spätwerk unter dem Auge des Malers zunehmend abstrakter wurde.

Der Einfachheit halber wird man sie nun drei Tage lang Sylvette nennen. Obwohl sie seit über 40 Jahren Lydia Corbett heißt.

„Sylvette?“

„Yes?“

Eine höchst reale Frau mit grauen Zöpfchen und offenem Gesicht dreht sich um. Jedenfalls hört sie auf Sylvette, als hätte sie nie jemand anders genannt. Im Töpferdorf Vallauris, das heute vom Nachruhm Picassos zehrt, wird sie von Honoratioren begrüßt. „Warum sind Sie nicht früher mal vorbeigekommen?“ Ortsvorsteher, Zeitzeugen halten jetzt lange ein bisschen verlogen ihre Hand.  „Ach, ich wohne ja in England. Drei Kinder. Das Leben.“

Man hat Sylvette, diese kurze Musen-Existenz, in Vallauris, wo Picasso 1954 ein Atelier hatte, 60 Jahre lang nicht für voll genommen. Wie Kunsthistoriker so sind. Weil es keine sexuelle Beziehung gab zwischen den beiden, hielten sie die künstlerische für „unauthentisch“. Picasso, der berühmte Pinselschwinger, hat nämlich sonst nur gemalt, womit er auch ins Bett ging. Abgesehen von den Ziegen, den Seeigeln und den Faunen vielleicht.

Sie trägt nichts nach, sie genießt

„Ich glaube auch, dass sie neidisch waren“, sagt Sylvette. Françoise Gilot, die Frau, von der sich Picasso gerade trennte. Und Jacqueline Roque, die nach ihr kam und die Picasso als Verkäuferin in einer Töpferwerkstatt kennengelernt hatte.

Aber jetzt, da man sie im Zuge der Ausstellung neu entdeckt, öffnen sich die Türen, die goldenen Bücher der Stadt, sie bekommt eine gerahmte Kopie ihrer Heiratsurkunde mit Toby Jellinek überreicht, obwohl sie von dem Mann längst geschieden ist. Ein Restaurantkoch möchte sich mit ihr fotografieren lassen. Sylvette trägt nichts nach und genießt. Sie weiß ja, wie sie auf Leute wirkt. Sie war 1954 eine Ausnahmeerscheinung. Grazil, treu, verträumt, von einer anderen Welt. Sie fiel damals auf – und sie fällt noch heute auf, in diesem strengen Frankreich, wie sie sich da einfach die Freiheit nimmt, diese Frau mit der hippiesken Ausstrahlung und den Zöpfen im Haar, dem freien Lachen und dem roten Schottenkaromantel, den sie die nächsten drei Tage nicht ablegen wird. Ihr Leben war immer großes Karo, nie kleinkariert, wie die Vichy-Muster in Frankreich, eher von der Größe, die sich die Engländer erlauben.

Fotografen umschwärmten ihn, Kunst-Groupies suchten seine Nähe

Es war im April 1954, als Sylvette David und ihr Verlobter Toby Jellinek ein paar unbequeme, aber künstlerisch wertvolle Stühle, die Toby entworfen und Picasso gekauft hatte, den steilen Weg nach „La Galloise“ herauftrugen. Picasso wohnte hier mit Françoise Gilot, den Kindern Paloma und Claude. Sie blieben für eine Limonade, und Picasso fragte, ob er sie malen könne…? 

Der 73-Jährige war ja ein Star, seit den 20er Jahren hatte er hier an der Côte d'Azur den Sommer verbracht und nach dem Krieg endlich wieder. Er hatte in verschiedenen Ateliers gearbeitet, in vielen Häusern gewohnt und diverse Frauen verschlissen. Ständig umschwärmten ihn Fotografen, Kunst-Groupies suchten seine Nähe. Sylvette tat das nicht. „Vielleicht war es genau das, was ihn gereizt hat.“ – „Picasso wollte wissen, was mein Geheimnis war“, sagt sie. In Vallauris wohnte sie nicht des Glamours wegen, sondern weil ihre Mutter dort lebte. Ihr Verlobter Toby entwarf schräg gegenüber von Picassos Atelier Möbel.

Gibt es einen Unterschied zwischen einem Modell und einer Muse? „Eine Muse wird nicht bezahlt“, sagt Sylvette. In einer Muse versucht der Maler deren Wesen zu entdecken, die Person. Da inspiriert die Muse das Werk. Ein Modell dagegen solle sich nach dem Bild richten, dass der Künstler schon vorher im Kopf hat. „Ich habe später in London als Fotomodel gearbeitet – da haben sie mich hässlicher gemacht", sagt Sylvette.

Es ist ein herrlicher Morgen in Juan-les-Pins, nicht weit von Antibes. Die Muse schläft noch. In dieser Gegend erfüllen Juweliere Grundbedürfnisse wie anderswo Bäcker. Jetzt sind sie alle noch geschlossen, aber wer es schafft, durch die verbaute Promenade ans leise flüsternde Meer zu gelangen, sieht, wie die Morgensonne die verkästelte Küste rosa beleuchtet. Altrosa erhellt sie Immobilien und Yachten, den etwas abgelebten Charme, das sich überlagernde Sediment von vielen Jahrzehnten Glanz und Abglanz.

Überall plakatgroße Bilder des Malers

Die ganze Gegend ist noch heute Picasso-Land. Antibes, wo er im alten Palazzo Grimaldi malen durfte, seine Matratze ausbreitete und ein ganzes Museum bestückte. Mougins, wo er bis zu seinem Tod wohnte. Vallauris, wo er in einer Töpferwerkstatt Keramiken herstellte. Überall prangen plakatgroße Bilder des Malers, der mit seinem Eulenblick aus jeder Ecke zu schauen scheint. Gepflegt und gerne in Unterhosen.

Sylvette hatte hier damals eine Welle gemacht. Das amerikanische Magazin „Life“ berichtete im November 1954 über „The Ponytail Period“. Paris-Match schrieb im August über Picassos „Freundlichste Epoche“.

Wochenlang, erzählt sie, sitzt sie in einem Schaukelstuhl an Picassos Atelierfenster, Erdgeschoss, Atelier du Fournas, und bringt es fertig, sich dort zu langweilen. Stunden, während derer sein Eulenblick zwischen ihr und der Leinwand hin und her wandert. Weil er mit spanischem Akzent Französisch spricht, versteht sie oft kaum, was er sagt. Sie ist zu schüchtern, nachzufragen. Sie ist immer ernst, „alle jungen Mädchen sind ernst“. Es sind Stunden, während derer der Maler „Gitanes“ raucht und die leeren Schachteln zu einer Pyramide schichtet. Zwei Monate lang geht das so. Fast jeden Tag. Sylvette fällt auf, wie sorgfältig Picasso immer rasiert ist, seine weiche, appetitliche Haut, eine auffallend frische Ausstrahlung, nie riecht er nach Knoblauch und Käse. „Aber wenn es ein Flirt gewesen wäre, wäre ich sofort weggelaufen.“ Niemals, sagt sie, hätte sie sich nackt ausgezogen, einen Brustakt von ihr hat Picasso aus der Vorstellung gemalt. „Ich war ja nackt und barfuß aufgewachsen, und ich mochte das nicht.“ Sie hatte ihre ganze Kindheit auf einer französischen Aussteiger-Insel verbracht, bekanntlich der beste Grund, später umso schüchterner zu werden.

Er breitet alles vor ihr aus. Sie soll sich etwas aussuchen

Die Abwesenheit einer Beziehung hat Picasso offenbar besonders viel Energie für die Kunst gelassen: Tonarbeiten. Realistische Porträts. Abstrakte Gemälde. Bleistift. Öl. Stehende, gefaltete Stahlskulpturen. Ein Ritt durch die Techniken, eine Deklination seiner Kunst. Am Ende jener Zeit breitete Picasso alles vor ihr aus: Sie könne sich etwas aussuchen. Sylvette nahm eine Zeichnung und ein Gemälde in Öl.

Das Haus, in dem Sylvette und Toby die folgenschwere Limonade tranken, ist heute im Besitz eines dänischen Privatmanns, Vize-Bürgermeister eines kleinen Ortes bei Kopenhagen, der hier seine Ferien verbringt. Ein Orangenbaum krallt sich in den Hang, unterhalb der Terrasse glitzert der Pool. Niemals würde er unter normalen Umständen Besuchern die Tür öffnen, aber jetzt ist es Picassos Muse persönlich, die noch einmal den steilen Anstieg zu „La Galloise“ hinauf gemacht hat. „Ich weiß, dass das Haus vorher anders gestrichen war“, sagt Arne Bech entschuldigend. „Aber ich mag Weiß.“ Er ist Däne und kein Spanier, was soll man machen.

Erst im Laufe der Zeit lernte Bech die Geschichte seines Hauses kennen. Dass seine Küche jene war, in der der Fotograf Robert Doisneau Picasso vor den Brothänden fotografierte. Und Tatsache, Bechs Frau Alice hat tatsächlich Brothände besorgt, die in der Küche auf einem Holztisch liegen. Kein Picasso, nirgends, aber sein alter Witz, der spukt noch immer hier herum. Der Übermut gewinnt, und alle setzen sich einmal hinter das Brot.

Das einzig Ornamentale in diesem nun nordisch kühl eingerichteten Haus ist der gemusterte Fliesenboden in der Küche, und an den erinnert sich Sylvette. Wie jetzt zu sehen ist, können auch Küchenfliesen große Rührung auslösen.

Sylvette ist nicht der Typ, der bedauert

Eine Geschichte gibt Arne Bech noch zum Besten, bevor Sylvette und Isabel wieder aufbrechen. Picasso selbst sei ja Nudist und gerne mal nackt in seinem Garten unterwegs gewesen. Er sagte auch Jacqueline immer, sie solle nackt herumlaufen, er müsse ihre Bewegungen studieren. Da zogen die Nachbarn irgendwann eine Mauer hoch, um das nicht länger mit ansehen zu müssen. Eines Tages habe Picasso die junge Tochter des Nachbarn gefragt, ob sie sich nicht malen lassen wolle. „Also nicht von dem…!“, rief der Vater. Und derlei mehr.

Dort, hinter ihrer Mauer des Anstands, sitze die alt gewordene Nachbarin noch heute, ärgert sich über ihren Vater und hält die Tatsache, dass sie sich nicht hat malen lassen, für die größte Dummheit ihres Lebens.

Sylvette ist nicht der Typ, der bedauert. Irgendwie, sagt sie, ist immer für sie gesorgt worden. Das habe sich so gefügt. Sie ging nach Paris, verkaufte ihr Picasso-Bild, kaufte von dem Geld eine Wohnung im Marais und eine Behandlung für ihren kranken Toby, verlor ihn an ihre beste Freundin, fand stattdessen einen Zugang zu Gott, nannte sich Lydia, flocht sich zwei Stirnzöpfe, zog nach England, hatte bald drei Kinder von vier Männern und fing schließlich mit 45 Jahren selbst mit dem Malen an.

Damals zu ihm vorgelassen, heute echter Zaungast

Jetzt sitzt sie neugierig im Auto, auf dem Weg nach Mougins, wo Picasso seine letzten Jahre verbracht hat. Damals zu ihm vorgelassen, heute echter Zaungast, hockt sie sich mit ihrer Tochter auf das Begrenzungsmäuerchen zu dem kameraüberwachten Riesengrundstück. Mutter und Tochter, Sylvette und Isabel, hatten den Maler 1965 noch einmal besucht, da war Isabel zwei. Sylvette erzählt, wie sie damals laut gerufen habe an der Pforte, bis der Gärtner kam und ihnen öffnete. Picasso habe den etwas kryptischen Satz gesagt: „Die Bilder sind stärker als Sylvette.“ „Nun ja“, sagt sie heute. „Ich war zehn Jahre älter und Mutter geworden.“

Ihre Tochter Isabel vermeidet es auf dieser Reise, ihre blonden, langen Haare im Pferdeschwanz zu tragen, wie sie das sonst gerne tut, um nicht in den Verdacht zu kommen, sich etwas anzumaßen. Tatsächlich hat Picasso aber durch die ein ganzes Leben lang erzählten Erlebnisse der Mutter bis in das künstlerische Werk der Tochter Einfluss.

Isabel – „mit einer freigeistigen Mutter ist man ja nicht nur beschenkt“ – wollte im Leben etwas lernen, auf das man sich verlassen konnte. Sie lernte Holzschnitzerei. Restaurierte alte Stücke. Dann auch freie Skulpturen aus Holz. Zurzeit arbeitet sie an einer Muttergottes mit Kind. Es soll die erste Muttergottes werden, bei der das Kind auf der Hüfte sitzt.

Isabel wischt auf ihrem i-Pad ein Modell heran, dann freie Skulpturen. Und Moment mal, was ist das? Ist das etwa eine überlebensgroße Holzfigur mit einem hohen Zopf? Nicht wahr.

Picassos Pferdeschwanz-Periode

Man muss sich nun Isabel Coulton vorstellen, groß geworden in England, Frau eines Uhrmachermeisters, längst selber Mutter. Da steht sie, zupackend, unabhängig, Schnittschutzhose, Ohrschützer und eine laufende Motorsäge in der Hand. Und dann kommt ein Pferdeschwanz dabei heraus. Überlebensgroß.

Isabel lacht. Sie hatte sich selbst regelrecht ertappt. „Ich habe das gesehen und gedacht: Was tue ich da?“ Picassos Pferdeschwanz-Periode hatte sich in England fortgesetzt. Der Zopf hatte sich losgerissen. War ausgewildert. Picassos Einfluss auf ihre Familie hat sich in einer frei flottierenden Frisur manifestiert.

Die Frauen Picassos haben jeweils auf ihre Weise ihren Mann zu verarbeiten gesucht. Françoise Gilot hat gegen den Willen des Malers eine Biografie herausgegeben, „Leben mit Picasso“, die den Maler auch als Scheusal zeigt. Marie-Thérèse Walter hat sich erhängt. Jacqueline Roque, seine letzte Frau, hat sich 1986 eine Kugel durch den Kopf geschossen, weil sie seinen Tod nicht verkraftet hat.

Sylvette, obwohl nur zwei Monate in seinem Bannkreis unterwegs, sagt Isabel, habe nie in ihrem Leben vergessen, dass sie für Picasso Modell gesessen hat. „Und, wirst du deinen Pferdeschwanz tragen?“, hatte Sylvette ihre Tochter in England noch gefragt. Auf keinen Fall.

Wenn am 22. Februar in der Bremer Kunsthalle die Ausstellung eröffnet wird, kommt auch Sylvette. Sie ist die Einzige, die alle Werke schon einmal zusammen gesehen hat.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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