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Gerettet. Flüchtlinge erreichen die griechische Insel Kos.

© AFP

Plädoyer für eine andere Asylpolitik: Wutbürgerkrieg oder doch lieber Aufklärung

Die Flüchtenden der Zweiten und Dritten Welt rücken unserem Wohlstand näher. Deshalb brauchen wir eine Einwanderungspolitik, in der "Wirtschaftsflüchtling" kein Schimpfwort mehr ist. Ein Kommentar

Eine scheinbare Abschweifung. Vor 20 Jahren, im Sommer 1995, als der Dichter und Inszenator Heiner Müller zusammen mit Daniel Barenboim in Bayreuth die Wiederaufnahme seines ziemlich genialen „Tristan“ probte, habe ich Müller drei Tage begleitet und das letzte lange Gespräch mit ihm geführt, vor seinem Tod Ende 1995. HM, der als sarkastischer Apokalyptiker über fast alle Weltkatastrophen, nur nie über den Holocaust geschrieben hatte, erinnerte dabei am Ende seines Lebens plötzlich an Auschwitz. Der Dialektiker sprach, überraschend, vom „Zerfall des religiösen Wertesystems“. Dadurch werde „Auschwitz möglich“. Was meinte er damit? Auschwitz als Metapher? Heiner Müller antwortete: „Die Losung der Pariser Commune war: Keiner oder alle. Und jetzt heißt es in den reichen Ländern mit Blick auf die übervölkerten, näherrückenden Armutszonen: Für alle reicht es nicht.“ Daraus folge das Grundprinzip: der „Selektion“.

Ein unheimlicher Gedanke. Nicht nur damals.

Als der Westen unterging

Infolge der Völkerwanderungen der ausgehenden Antike ist einst das Weströmische Reich, der erste große „Westen“, untergegangen. Die Hunnen, Goten, Vandalen, Langobarden brachen bis zum Ende des 6. Jahrhunderts ein ins Herz des alten Europas, zogen fremde Heerscharen und Stämme mit sich, ein Kontinent wälzte sich um.

Der Untergang des neuen Europas und des neuen, größeren Westens steht jetzt nicht bevor. Auch noch keine wirkliche Umwälzung. Doch die Veränderungen erscheinen unaufhaltsam. Heute, mit der beschleunigten Globalisierung und vernetzten Kommunikation, sind die Ausgeworfenen, Vertriebenen, Flüchtenden der Zweiten und Dritten Welt tatsächlich nahegerückt. Begonnen hat eine Ära der modernen Völkerwanderung. Allein in diesem Jahr sind bis zu 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Und ungeachtet der Auswirkungen von Kriegen, Terror und Gewaltherrschaft erwarten internationale Organisationen, Umweltschützer und selbst die Bundesregierung in den nächsten dreißig Jahren wegen der Erderwärmung und den mit ihr einhergehenden Dürren, Überschwemmungen oder anderen Naturkatastrophen auch noch über 200 Millionen Klimaflüchtlinge. Ein Begriff, der inzwischen offiziellen Charakter annimmt.

So wird die Flüchtlingsdebatte, die überall in Europa entbrannt ist, kein flüchtiges Phänomen bleiben. Weil die Flüchtlinge bleiben. Und immer mehr werden. Man rechnet dieses Jahr mit rund 750 000 Asylbewerbern allein in Deutschland. Dies entspräche der Einwohnerschaft einer fünftgrößten deutschen Großstadt, nach Köln und noch weit vor Frankfurt am Main. So viele Frauen, Männer, Kinder aus Syrien, dem Kosovo, aus Albanien, Irak oder Eritrea sind selbst für ein reichen Landes eine Herausforderung.

Es fehlt an Geld und Empathie

Die politische Klasse, die statt der euphemistischen „Zuwanderung“ immer häufiger das wahre Wort „Einwanderung“ benutzt, reagiert hierauf mit einer Mischung aus seriöser Analyse und gebremster Empathie, aus teils gratismütiger Willkommenskultur oder populistischem Ressentiment. In kommunalen oder staatlichen Einrichtungen überwiegt dagegen die engagierte Bemühung, gepaart oft mit objektiver Überforderung durch den Mangel an Personal, Infrastruktur, Geld. Das alles entspricht noch dem Bekannten und Erwartbaren. In der Bevölkerung aber ist eine Polarisierung entstanden, die es so seit 1945 oder 1989 noch nicht gegeben hat

Einerseits ruft der Flüchtlingsstrom eine Welle generöser, humaner Hilfsbereitschaft hervor. Und eine große Mehrheit verurteilt Brandanschläge auf Flüchtlingsheime und fremdenfeindliche Randalen. Etwas jedoch ist entscheidend anders als in den 1990er Jahren. Damals lösten die Anschläge auf Flüchtlinge oder in Deutschland lebende Ausländer in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen ein bundesweites Entsetzen aus. Ein Entsetzen, dem, abgesehen von lokalem rechtem Mob, keine offene und gar massenhaft verbreitete Gegenmeinung widersprach.

Der sich erhitzende Wutbürgerkrieg tobt

Heute indes gibt es in ganz Europa erstarkte, gegen Minderheiten gerichtete Rechtsparteien. Ihre Anhänger nutzen das Internet und soziale Netzwerke. In Deutschland demonstriert die neue Rechte zwar noch im überwiegend außerparlamentarischen Raum, aber die Pegida-Bewegung hat viele Schleusen geöffnet. Seitdem tobt hier ein erst mal kalter, an Orten, wo Flüchtlinge erwartet oder schon aufgenommen werden, sich oft erhitzender Wutbürgerkrieg. Plötzlich werden sogar vor Mikrofonen wieder „Arbeitslager“ gefordert, Fremde als Schädlinge bezeichnet und die Angst vor einer „Umvolkung der Deutschen“ geäußert

Trotz dieser eindeutigen Sprache beteuern viele der – von Sachsen bis Baden-Württemberg – um ihren verdienten Wohlstand besorgten und ostentativ wohlgenährt wirkenden Bürger, sie seien „keine Nazis“. Sie halten sich vermutlich sogar für die (früher schweigende) Mehrheit. Die sie gewiss nicht sind. So wenig wie die Lega Nord in Italien oder der Front National in Frankreich. Gleichwohl wird überall der „Dialog mit den besorgten Bürgern“ gefordert. Denn tatsächlich gibt es, wo sich nicht bloß nackter Egoismus mit eingefleischtem Ressentiment auflädt, auch reale Ängste: vor Überfremdung, gerade in Gegenden, die Fremde kaum kennen. Manche befürchten den Verlust von Heimat – und treffen mit ihrer Abwehr ausgerechnet auf Menschen, die gerade ihre Heimat unter grausamen, den Einheimischen offenbar unvorstellbaren Umständen verloren haben. Hier tut Aufklärung not. Aber dieser Versuch der Aufklärung ist keiner nur der schnellen, rationalen Information. Es geht einerseits um die Integration der Immigranten, was allein schon eine über alles bisher Geplante hinausgehende Bildungsanstrengung bedeutet. Sie allerdings richtet sich nicht nur an eine in den genannten Ängsten projizierte schwarze, graue Masse. Denn hinter den Zahlen der Statistik stehen in Wahrheit unzählige Einzelschicksale. Stehen dabei: Ärzte, Lehrer, Juristen, Krankenpfleger, Künstler, Handwerker, Arbeiter, Bauern – und ihre Kinder.

Eine neue Reeducation

Das Projekt Aufklärung müsste also auf der anderen Seite im deutschen (europäischen) Inneren an tief sitzenden soziokulturellen Einstellungen rühren und wäre als politische Bildungsaufgabe der von Amerikanern und Briten nach 1945 in Westdeutschland betriebenen „Reeducation“ vergleichbar.

Einwanderungspolitik richtet sich daher nach innen wie nach außen. Wobei sie an ihren Außengrenzen, schon auf Kos oder Lampedusa, einem Desaster gleicht. Und damit ist auch die unter anderem mit Begriffen wie „Dublin II“ behaftete europäische Abschottungspolitik gescheitert – wie auch eine wesentliche Intention des deutschen Asylrechts.

Als 1993 in Deutschland das Grundrecht auf Asyl mit einer Verfassungsänderung dahingehend eingeschränkt wurde, dass nachweislich über Nachbarstaaten (Drittstaaten) eingereiste Asylbewerber auf diese Staaten oder ihre Heimatländer zurückzuverweisen sind, war das ein Trick (der u.a. zum Austritt von Günter Grass aus seiner EsPeDe führte). Tatsächlich sank hierauf die Zahl der Flüchtlinge nach Deutschland zunächst drastisch. Weil Deutschland in seiner europäischen Mittellage als Erstland nun praktisch nur noch über die Nord- und Ostsee erreichbar war.

Dieser Cordon sanitaire ist längst zerbrochen, weil beispielsweise die Mittelmeerstaaten die bei ihnen Gestrandeten nicht alle aufnehmen können und sie aus eigener Not vielfach ohne Kontrollen nach Deutschland weiterreisen lassen. Mit nicht ganz selbstloser Beihilfe etwa unserer österreichischen Nachbarn. Doch der Hauptaspekt ist ein anderer. Er betrifft die Unterscheidung zwischen dem nach Artikel 16 a Grundgesetzt asylberechtigten politisch (staatlich)Verfolgten und allen anderen Flüchtlingen, die allenfalls ein befristetes Bleiberecht erhalten. Gerade gegenüber ihnen, bei denen sich existenzielle Höllen oft mit materiellem Elend verbinden, erschallt dann der Schmähvorwurf: „Wirtschaftsflüchtlinge“.

Asyl als Notwehrrecht

Das Schimpfwort ist schon menschlich schäbig. Aber es betrifft auch die schon erwähnte „Selektion“. Was juristisch oft nur noch mit spitzfindiger Kälte begründbar ist, erscheint ethisch längst nicht mehr haltbar. Flüchtlingen, ob balkanischen Roma oder der Verstümmelung, Zwangsheirat, Vergewaltigung entkommenen Afrikanerinnen, ob verfolgten Homosexuellen oder vor der Sklavenarbeit auf Giftdeponien oder in Sweatshops Entflohenen – ihnen in Deutschland das Notwehrrecht auf einen dauerhaft sicheren Hafen und eine neue Lebensperspektive zu verweigern, ist mit dem Menschenwürdesatz der Verfassung schwerlich zu vereinbaren. Von christlicher Barmherzigkeit ganz zu schweigen.

Die Kanzlerin selbst hat das in der Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen Reem kürzlich erfahren. Sie könnte dies, zumal sie das Problem für wichtiger hält als Griechenland und Eurokrise, zu ihrer Sache machen. Begänne der Aufstand von Anstand und Einsicht mal an der Spitze, fiele der Basis das gern geforderte „neue Denken und Handeln“ schon leichter.

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