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Plädoyer für eine neue Hauptstadt-Mitte: Mehr Berlin wagen

Florian Mausbach, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, plädiert für eine neue Hauptstadt-Mitte. Denn Berlin braucht einen Ort, an dem alle mitreden können.

St.Marien hielt dem Zugriff stand. In Dresden hatte Ulbricht die gotische Sophienkirche – sie überlebte als einziges Gotteshaus den Bombenhagel – aus dem Stadtmodell herausgegriffen und zur Sprengung freigegeben. In Berlin aber hatten die Architekten vorgesorgt und die Marienkirche im Stadtmodell fest verschraubt und verleimt. Ulbricht griff nach ihr - vergeblich. Zur Eile gedrängt und von neuen Terminen abgelenkt, musste er vorzeitig die Präsentation verlassen. „Modell der Staatsachse gebilligt“, vermerkte das Protokoll. Das war die Rettung, berichtete jüngst ein ehemaliger Ingenieur der Bauakademie der DDR.

Und so steht St. Marien heute noch. In schräger Randlage, ihrer historischen Umgebung beraubt und von den spitzen Stacheln des Fernsehturmsockels bedroht. Gegenüber erhebt das Rote Rathaus seinen Turm, in die Flucht hoher Plattenbauten gedrängt. Beide erinnern an die bürgerliche Geschichte Berlins. Im Kleid der norddeutschen Hanse, der Backsteingotik, zeugt die Marienkirche von der blühenden frühbürgerlichen Kaufmanns- und Handwerkerstadt des Mittelalters; das Rote Rathaus – der märkische Backstein ist Name und Tradition – vom erwachten großstädtischen Bürgertum der Neuzeit; das benachbarte Stadthaus als „zweites Rathaus“ von der werdenden Weltstadt.

Mit wachsender Neugier verfolgen die Berliner, wie Archäologen Zeugnisse der vergessenen Altstadt ans Licht holen, erst jüngst überraschend gut erhaltene Reste des Hauptsaals im „Alten Rathaus“ und gleich nebenan im Keller des Hauses Königstraße 50 – ganz unglaublich – elf verschollene, als „entartete Kunst“ beschlagnahmte Skulpturen der Klassischen Moderne! Es lohnt sich, in der Vergangenheit zu graben.

Im Spreebogen hat Berlin mit dem Bundestag im Reichstagsgebäude und dem neuen Kanzleramt nach 20 Jahren Wiedervereinigung seine staatsbürgerliche Mitte gefunden, auf der Schloss- und Museumsinsel mit den Schätzen der Weltkultur seine weltbürgerliche Mitte. Aber wo ist das Zentrum der Berliner Bürgerschaft, die stadtbürgerliche Mitte? Wo ist der Ort, wo die Berliner aus Ost und West, aus der Vielzahl ihrer Stadtteile und Kieze sich als Bürger ganz Berlins treffen? Stadtteile haben ihre eigenen Zentren, die Gesamtstadt aber trifft und findet sich in der Mitte. Deshalb muss der Raum zwischen Fernsehturm und Spree als bürgerschaftliche Mitte neu gestaltet werden. Die Hauptstadt muss auch Bürgerstadt werden!

Der Sockel des Fernsehturms verstellt jede bauliche Entwicklung

Mittelpunkt der Bürgerschaft war vom Mittelalter bis zur Neuzeit Alt-Berlin. Mit Rotem Rathaus, Stadthaus und weiteren Verwaltungsgebäuden wurde nach Jahrhunderten im Schatten der barocken Residenzstadt „Alt-Berlin mehr und mehr zu einem Zentrum und Ort der Selbstdarstellung der Kommune“ (Harald Bodenschatz). Aus dieser Geschichte des Ortes erwächst eine städtebauliche Idee, die die Zukunft aus der Vergangenheit fortentwickelt. Dies schließt die jüngste Vergangenheit ein, einen historisierenden Wiederaufbau aber aus. Auf dem im Untergrund verborgenen Straßennetz der untergegangenen Altstadt als Stadtgrundriss kann ein modernes Gesamtensemble entstehen aus Wohn- und Geschäftshäusern, Plätzen, Grün und öffentlichen Bauten. St.Marien sollte den Schutzmantel einer umgebenden Bebauung zurückerhalten, das Rote Rathaus mit einem Rathausplatz die Würde und Bedeutung, die der größten Stadt Deutschlands gebührt.

Zwischen Spree und Fernsehturm bietet sich das Bild einer Zukunft von gestern. Der Sockel des Fernsehturms, dieses bizarr in den Raum ausgreifende Beton-Faltwerk, verstellt jede bauliche Entwicklung und den Zugang zum Alexanderplatz. Der theatralische Gestus einer Staatsachse geht ins Leere. Ein neuer Sockel sollte den Fernsehturm zu den Hochhäusern am Alexander-Platz orientieren und Ost-Berlins Zentrum nach Westen zur Mitte der Gesamtstadt öffnen.

Den revolutionären Weltbewegern Karl Marx, Friedrich Engels und Martin Luther gebührt auch künftig ein Ehrenplatz. Das Luther-Denkmal gehört aus dem Schatten der Marienkirche heraus ins rechte Licht, das Marx-Engels-Denkmal, aus seiner unwirtlichen, sonderbar prähistorischen Kultstätte befreit, in einen freundlichen Park am Ufer der Spree. Mit der Auferstehung des Schlosses kann auch der Neptunbrunnen zurück auf den Schlossplatz.

Draußen in Tempelhof soll mit 270 Millionen Euro eine neue Zentral- und Landesbibliothek errichtet werden, die ihre in der Stadt verteilten Bibliotheken unter einem Dach vereint. Die Stadtbibliothek liegt heute in der historischen Mitte in der Breiten Straße neben dem künftigen Schloss, in dessen Humboldt-Forum eine Bibliotheksfläche von 4000 Quadratmetern als Beitrag Berlins fest eingeplant ist. Was ist naheliegender, als die übrige oder die gesamte Zentral- und Landesbibliothek in der Nachbarschaft anzusiedeln? Gibt es einen besseren Ort als vor dem Roten Rathaus? Einen, der verkehrsgünstiger, bürgernäher und für eine Zentralbibliothek zentraler wäre? Für öffentliche Bau- und Infrastrukturinvestitionen gilt der Grundsatz: Sie sollen möglichst viele Privatinvestitionen nach sich ziehen. Der Spatenstich für eine Bibliothek an der neuen U-Bahn-Station „Berliner Rathaus“ wäre der Anstoß für eine neue Stadtmitte mit einer ganzen Kettenreaktion privater Investitionen.

Berlin braucht einen Ort, an dem alle mitreden können

Vor dem Berliner Abgeordnetenhaus steht ein im 19.Jahrhundert mit Spenden von Bürgervereinen aus ganz Deutschland errichtetes Denkmal für den Freiherrn vom Stein, den Vater der kommunalen Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung der Kommunen ist heute im Grundgesetz fest verankert. Im NS-Einheitsstaat war sie abgeschafft, und auch in der DDR waren Städte und Gemeinden zur unteren Verwaltungsebene des Einheitsstaates degradiert. Im Abgeordnetenhaus, dem ehemaligen Preußischen Landtag, und im Roten Rathaus hat die Selbstverwaltung ihre repräsentativen Bauten. Ein öffentliches Gebäude als Ort bürgernaher Demokratie und lebendiger Bürgergesellschaft, einen signifikanten Ort der Bürgerbeteiligung aber gibt es in Berlin bis heute nicht.

Die friedliche Revolution von 1989 hat ganz Deutschland durch eine „Politik von unten“ verändert mit Bürgerrechtsgruppen, Montagsdemonstrationen, Runden Tischen und durch Abstimmung mit den Füßen. Heute werfen die Proteste um „Stuttgart 21“ Fragen nach einer Weiterentwicklung der Demokratie auf. In den 70er Jahren folgten Bürgerinitiativen dem Ruf „Mehr Demokratie wagen“.

Sie erreichten die gesetzliche Verankerung von Anhörungs- und Beteiligungsrechten und stärkten die „Basisdemokratie“ in Stadtplanung, Denkmal- und Naturschutz und bei Großvorhaben. Diese Rechte sind heute nicht selten erstarrt in langwierigen, unübersichtlichen, mit Rechtsstreit belasteten bürokratischen Planungsverfahren. Bürgeranhörungen in Hinterzimmern mit schwer lesbaren Fachplänen erreichen die Betroffenen nicht, die erst wach werden, wenn Bagger rollen oder überraschende Fluglärm-Routen und geheime Wasser-Verträge öffentlich werden. Andererseits wecken Proteste und Blockaden die Sorge vor einer alles lähmenden Anlieger- und Betroffenen-Demokratie. In Stuttgart versucht ein „Runder Tisch“ Versäumtes nachzuholen und durch Sachaufklärung zwischen Vogel- und Froschperspektive zu vermitteln.

Das Bauprogramm für die Bibliothek, die selbst ein Ort moderner vernetzter Wissens- und Bildungsvermittlung ist, sollte deshalb erweitert werden um ein Bürgerforum, ein Konferenz-, Ausstellungs- und Veranstaltungszentrum, wo die Bürger der Stadt, unterstützt durch moderne Medien, frühzeitig unterrichtet, angehört und beteiligt werden, wo über Stadtentwicklung und Stadtgestaltung, Wirtschaft und Arbeitsplätze, Verkehr und Umwelt, Kultur und Bildung, soziale Integration und öffentliche Sicherheit gesprochen wird, kurz, über die Zukunft Berlins in den kommenden Jahrzehnten.

Was für die staatsbürgerliche Mitte der Plenarsaal des Deutschen Bundestages, für die weltbürgerliche Mitte die Agora im Humboldt-Forum der Weltkultur, das ist künftig für die stadtbürgerliche Mitte das Bürgerforum.

Der Bau eines solchen Bürgerforums macht den Runden Tisch zur festen Institution und die kommunale Selbstverwaltung zum sichtbaren Dreiklang aus Abgeordnetenhaus, Rotem Rathaus und Bürgerforum. Alle drei Bauten aber bilden den Rahmen für einen großen Rathausplatz, als Markt- und Schauplatz der Bürgerschaft, zum Versammeln, zum Feiern und eines Tages zum Empfang des Deutschen Fußballmeisters! Erst dann ist Berlin wirklich Hauptstadt, Hauptstadt der Bürger.

Florian Mausbach war von 1995 bis 2009 Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung. Bei Dom Publisher ist jetzt sein Buch „Ideen für Berlin – Bausteine für eine Metropole“ erschienen (158 Seiten, 28 €).

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