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Kultur: Plappern gehört zum Handwerk

Die Computer-Kommunikation wirft den Menschen wieder auf sich selbst zurückBurkhard Schröder Aristoteles hat die Triebkraft des Internets prophezeit. "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", heißt es wuchtig in der "Metaphysik".

Die Computer-Kommunikation wirft den Menschen wieder auf sich selbst zurückBurkhard Schröder

Aristoteles hat die Triebkraft des Internets prophezeit. "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", heißt es wuchtig in der "Metaphysik". Der Wunsch, alles zu wissen, ist eine Kraft, die Weltreiche erschütterte. Johannes Gutenberg untergrub mit der Erfindung des mechanischen Buchdrucks das Lehrgebäude der katholischen Obrigkeit, deren Autorität auch darauf beruhte, dass sie das vorhandene Wissen verwaltete und sich anmaßte, die Untertanen mit womöglich irritierenden Fakten zu verschonen. Umberto Eco hat diesem Prinzip in der Person des blinden Sehers Jorge ein literarisches Denkmal gesetzt.

Von "Der Name der Rose" zu Internet und E-Commerce ist es nur ein kleiner Schritt. Die Dienste des Internet - World Wide Web, Usenet, E-Mail, Suche nach Dateien, Chat - versprechen sofortiges Wissen für jedermann weltweit: virtuelle Spaziergänge in der Washingtoner Kongressbibliothek und in den heiligen Hallen der British Library auch für bayerische Bauern - wenn sie denn wollen. Der Computer ist nur ein Behelf auf dem Weg zum vollkommenen Wissen, eine Zwischenstufe, wie es der Neandertaler zum Jetztmenschen war. Eine kollektive Maschine als kollektiver Wissensspeicher, in seiner Projektion mit allen anderen Wissenspeichern verbunden, käme dem Ideal der Enzyklopädie von Diderot gleich.

"Ganze Völkerschaften sind durch die Worte eines einzigen Predigers in Bewegung gesetzt worden", schreibt Hans Blumenberg in "Lebenszeit und Weltzeit", "wenn er nur zu beschwören vermochte, die gerade Lebenden würden noch erleben, was überhaupt zu erleben sei." So auch die affirmativen Propheten des Cyberspace. Wenn nur alle alles wüssten oder die Chance hätten, sich alles Wissen anzueignen, dann gäbe es eine Antwort auf die Fragen, über die der Homo Sapiens seit grauer Vorzeit grübelt.

Wissen ist kumulierte Erfahrung von Generationen. Deshalb bedeutet Wissen Macht auch über die Interpretation der Geschichte. Kommerzielle Internet-Anbieter und Konzerne, die nicht Wissen, sondern Waren und Dienstleistungen in die vernetzte Kommunikationsgemeinschaft einspeisen und zudem ihren Informationsvorsprung nicht offen legen, gelten als natürliche Feinde der ursprünglichen Idee einer freien Verfügbarkeit von Informationen. Wau Holland, Gründer des Chaos Computer Clubs, hält den Leitsatz hoch: "Wissen ist mit der Verantwortung verbunden, es weiterzugeben." Die Natur, die nach Wissen strebt, siegt. Die Gutenberg-Bibel war die erste Hacker-Software.

Die Sprache verbindet Menschen und erlaubt ihnen, sich selbst zu erklären, sich selbst im Vergleich zu anderen Existenzen. Sie schafft eine Simulation der Gedanken über die Welt in Form von Schallwellen. Der Computer lagert Teilmengen des Gehirns aus, simuliert die Aktivität des Kopfes, schafft ein digitales Werkzeug, in dem sich die Erinnerung und Erfahrung anderer sinnlich manifestiert. Die flüchtigen Bits und Bytes, die auf schimmernden Scheiben in den Rechnern schlummern, erhalten mit dem Internet eine Art höhere Existenz, ein Eigenleben: Das Ganze, die Gesamtheit aller vernetzten Rechenmaschinen, ist mehr als die Summe ihrer Teilchen. So werden - wie alle komplexen Lebewesen - auch Wissensspeicher krank. Die digital ausgelagerten Erfahrungen des Menschen können sich wie Geschwüre vermehren und Viren ausbilden. Kein Zufall, dass die Begriffe, mit denen von Fehlfunktionen infizierte Programme beschrieben werden, aus der Medizin stammen.

Der Personal Computer jedoch ist der Ötzi der digitalen Weltsprache: archaisch, mit individuellen Macken, fehlerhaft wie der Mensch, der ihn benutzt. Das Internet ist eine Gemeinde sprechender Werkzeuge, als wären Hämmer in der Lage, sich über die Kunst des Nägeleinschlagens zu unterhalten. Die Datenübertragung zwischen Computern, das sogenannte TCP/IP-Protokoll, dessen Entwicklung 1975 als die wahre Geburtsstunde des Internet gilt, war als plattformunabhängige Sprache zwischen unterschiedlichen Wissenssystemen geplant, eine Art Computer-Esperanto über die Telefonleitung. Damals musste der Mensch den Befehl in die Maschine einschreiben, sich mit einer andern zu verbinden: LOG für "einloggen". Der Computer stürzte bei der Premiere nach dem zweiten Buchstaben ab - ein Menetekel der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens.

Neue Schranken und Tabus

Die virtuelle Welt galt in ihren Anfängen nur als Simulation der Öffentlichkeit, als eine Zweitwelt mit besseren Regeln als denen der schmutzigen Realität. Jetzt stößt der Surfer auf eine Unzahl von kulturellen Schranken und Tabus, von deren Existenz er bisher kaum etwas ahnte. Die Kommunikation zwischen realen Menschen ist weniger furchterregend, weil sie redundant ist. Die virtuellen Foren des Internets bedeuten für die Sprache das, was der protestantische Bildersturm für die Theologie war: Er entkleidet die Kommunikation ihrer Vieldeutigkeit und wirft sie zurück auf das (geschriebene) Wort. Das Wort allein ist der Weltgeist - keine Mimik, keine Gestik, keine sinnlich wahrnehmbaren sozialen Schranken, keine sprachlichen Tabus. Die weltweite Kommunikation war in Wahrheit eine Illusion, da die Nutzer in der Frühzeit des Internets ausschliesslich einem bestimmten Milieu angehörten - dem der scientific community. Sie übernahmen die dort herrschenden "vernünftigen" kommunikativen Regeln schlicht auch für die digitale Form. Die "Net(t)iquette", die Benimmregeln des Internets, fördern weltweit die Sprache und Umgangsformen der aufstiegsorientierten Mittelschichten der Ersten Welt.

Die Realität holt jetzt ihre virtuelle Simulaton ein. Jürgen Habermas warnte schon in den siebziger Jahren angesichts eines desintegrierten common sense: Das Moment der Öffentlichkeit, das Vernunft verbürge, könne nicht gerettet werden unter Preisgabe der allgemeinen Zugänglichkeit. Von neuen Medien ahnte damals niemand etwas, aber die Frage ist aktuell. Das Usenet, die Gesamtheit aller öffentlichen Diskussionsforen - und technisch unabhängig vom World Wide Web - verliert seine ursprüngliche Qualität. Und das nur ein halbes Jahrzehnt, nachdem es sich zumindest in den USA als neue Form des öffentlichen Raums durchgesetzt hat. Ein jederzeit und weltweit erreichbares virtuelles "Schwarzes Brett" - nichts anderes ist eine Newsgroup - hat nur dann einen Sinn, wenn dort Menschen schreiben, die sich etwas zu sagen haben.

Vom GAU zum DAU

Viele Foren quellen jedoch mittlerweile über von Spam (unerwünschter Werbung) und dem Gestammel der von den Netz-Veteranen so genannten DAUs ("dümmste anzunehmende User"). Der Trend geht zu geschlossenen Benutzergruppen, deren Betreiber sich vorbehalten, jemanden, der alle Nachrichten des jeweiligen Forums abonniert hat, sich aber nicht an die Netiquette hält, wieder vom Diskurs auszuschließen. Die reale Welt und ihre Gesetze durchdringen die virtuelle Gegenwelt, die sich als Insel der kommunikativ Seligen wähnte. Im Chat ("schnattern") zählt nur das geplapperte Wort. Produktion sozialer Geräusche in Echtzeit - das kennen wir aus der Daily Soap und aus Talk-Shows. Das Medium transportiert keine Botschaft mehr, es ist die Botschaft. Es simuliert Realität wie die Puppenstube das Familienleben.

Der Mensch lebt immer noch in kleinen Gruppen. Es scheint, als wollte er das nicht anders, als sei er nicht in der Lage, die Zügel der Evolution abzustreifen, die verhindern, dass er sich freudig und tollkühn auf Dinge einlässt, die er noch nicht kennt. Der "Ethnisierung" der Politik entspricht die "Ethnisierung" des Internet. Immer mehr soziale Gruppen verzichten auf den Zugang zu allen Informationen und stellen freiwillig Filter auf, die das jeweils Böse nicht an sie heranlassen. Religiöse und politische Milieus sondern sich trotz der Technik ab; Kosher.net, American Familiy Online - wir zeigen uns nur, was wir ohnehin schon wissen.

Die Mutter aller Computernetze ist dem Menschen in der Entwicklung voraus - wie der Ozean, der die Schiffahrt schon immer ermöglichte, aber nicht die Garantie bot, dass der Mensch sie auch nutzte, um ferne Gestade zu erreichen. Noch steht die zivilisatorische Arbeit erst bevor, die den Menschen internetfähig macht. Norbert Elias konstatierte als Fortschritt im "Prozess der Zivilisation" die "Verwandlung zwischenmenschlicher Fremdzwänge in einzelmenschliche Sachzwänge". Die Chance, mit allen zu reden, die Chance, alles zu wissen, überfordert den Jetztmenschen.

Deshalb ist der Sozialcharakter des Hackers sowohl ein Appell an die Zukunft, dem Wissensdurst keine ökonomischen Schranken in den Weg zu stellen als auch ein verzweifelter Protest gegen diese Zukunft. Die Hacker-Attacke gegen Internet-Firmen ist auch eine öffentliche Demonstration der Furcht. Der Hacker besitzt in den Augen der Öffentlichkeit ein esoterisches Wissen, das ihm Macht verschafft - und ganz profan gute Aussichten, einen Job in der boomenden Computer-Industrie zu ergattern. Diese Macht behält er nur, wenn er seinen eigenen Regeln zum Trotz das Wissen für sich behält. Der virtuelle Hooligan zeigt, was er kann, um sich seines eigenen sozialen Prestiges zu vergewissern. Wie ein Schimpanse, der sich drohend auf die Brust trommelt. Der Homo Sapiens bleibt sich treu, auch im Cyberspace.

Der virtuelle Raum, die vernetzten Wissensspeicher sind nur eine neue Form des alten Menscheitstraums: alles zu wissen, um die Furcht vor dem Ungewissen zu bannen. Ist omnipräsentes Wissen, ein Konglomerat aus allen verfügbaren Informationen in Form von Nullen und Einsen, ein Synonym für Leben, für dessen Sinn? Ein Zeichen für das Streben nach Wissen, heisst es in der "Metaphysik", sei die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. "Keine Sinneswahrnehmung ist jedoch eine Weisheit", resümiert Aristoteles. Und die Summe aller Bits und Bytes ist nicht das Wissen, das zählt. Auch das Internet und das Wissen um die Gedanken aller anderen Menschen wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück.Der Autor ist Schriftsteller und Dozent für Internet-Recherche an der Berliner Journalisten-Schule.

Burkhard Schröder

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