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Kultur: Platz der Rebellen

Magische Orte (4): Mitten in Santiago de Chile liegt die Plaza Baquedano. Sie verbindet Arm und Reich

Zwischen sieben und acht Uhr abends wird es selbst hier, an einem der verkehrsreichsten und mithin menschenfeindlichsten Orte in Santiago de Chile, erträglich. Ja, da entwickeln die nebeneinanderliegenden, als solche kaum auszumachenden Plätze Baquedano und Italia einen Charme, der Santiago für diese kurze Zeit zu einer der schönsten Städte der Welt macht. Die Dunstglocke, die an vielen Sommertagen über der Stadt hängt, hat sich verzogen, die untergehende Sonne spiegelt sich in den alten und neuen Wolkenkratzern rund um den Platz, die Luft wird klar, sie scheint in diesem Moment geradezu die sauberste der Welt zu sein, und vor einem stechend blauen Himmel zeichnen sich rund um die Stadt die Kordilleren mit ihren schneebedeckten Gipfeln ab. Selbst der General Manuel Baquedano sieht da mitten auf der ovalen Verkehrsinsel so aus, als sitze er noch eine Idee aufrechter auf seinem Pferd, als blicke er noch eine Idee stolzer die Avenida Libertador General Bernardo O’Higgins herunter, die hier beginnt, sonst nur „Alameda“ heißt und auf sieben Kilometern Santiago Richtung Westen durchzieht.

Die Plaza Baquedano ist kein Platz, der zum Verweilen einlädt, er wird von drei- bis sechsspurigen Straßen umkreist, die in genauso große Straßen münden. Er erinnert an einen Helden aus dem Salpeterkrieg, den die Chilenen zwischen 1879 und 1883 erfolgreich gegen die Peruaner und Bolivianer führten. Seine Markanz bekommt der Platz, der früher Plaza Italia hieß und im Volksmund heute noch so heißt, dadurch, dass er eine Art zentraler Brückenkopf ist und Santiago gewissermaßen einteilt: in arm und reich, urban und eher nicht so urban, hässlich-verkommen und touristisch interessant.

Der Platz sei „das freie Territorium“, in dem das Land seine Ereignisse feiere und seinem Unmut Luft mache, hat der Transvestit und Schriftsteller Pedro Lemebel einmal gesagt, und tatsächlich ist seine Strahlkraft beträchtlich. Liegen an der Alameda unter anderem der Präsidentenpalast, zwei Universitäten und die Busbahnhöfe, so geht es von hier in östlicher Richtung in die Bezirke der Reichen, Providencia, Las Condes, Vitacura und Lo Barnechea, die nah an den Bergketten liegen und infolgedessen die bessere Luft aufweisen (und dementsprechend begehrt wie mitunter unbezahlbar sind).

In nördlicher Richtung wiederum läuft man vom Baquedano über den hässlichen, ewig schmutzigbraunen Mapuche-Fluss Richtung Cerro San Cristóbal, der eine der großen Attraktionen der Stadt ist, mit zwei Seilbahnen, zwei Schwimmbädern und nicht zuletzt der weißen Jungfrauen-Skulptur an seiner Spitze. Tagsüber erholen sich die Einwohner Santiagos in seinem hügeligem Geläuf, in der Nacht treiben sie sich mit den argentinischen und europäischen Touristen in Bellavista herum. Das Barrio Bellavista ist das offizielle Ausgehviertel, das am Fuß des Cerros liegt und in der Verbindungsstraße zum Baquedano eine Vergnügungsmeile hat, die sich vor keinem Ballermann zu verstecken braucht. In den Seitenstraßen sieht das schon anders aus, edler, alternativer, mit nur noch wenigen Lapislazuli-Souvenirlädchen. Wer Glück hat, findet sogar noch eine Death-Metal-Kneipe, deren Gäste keinen Hehl aus ihrem Unmut über das Treiben um sie herum machen.

Das Barrio Bellavista hat zwar tagsüber durchaus Charme mit seinen bunten kolonialen Hausfassaden. In der Nacht aber wirkt es doch eher arg designt und unoriginell. Am Baquedano dagegen, insbesondere auf dem Vorplatz zur Metrostation und einige Meter weiter um die Engel-Löwen-Statue herum, geht es bodenständiger, chilenischer, mithin urbaner zu.

Hier treffen sich am frühen Abend die Liebespärchen, um in die umliegenden Parks auszuschwärmen. Hier lässt sich gut beobachten, wie die Menschen aus der Metrostation kommen und sich dann in Reih und Glied an der Busstation anstellen, um einen der Micros in die Außenbezirke zu bekommen. Und hier treffen sich gern auch junge Skater, argwöhnisch beobachtet von der in Santiago durchaus allgegenwärtigen Polizei, und studieren ihre Figuren ein. Die Carabineros haben in der Baquedano-Metrostation auch ein größeres Büro, was sinnvoll ist, denkt man an die Worte Lemebels und daran, dass der Platz immer wieder Ausgangspunkt von Demonstrationen und Feierlichkeiten ist. Und ein paar Straßen weiter gibt es sogar die Calle Los Carabineros de Chile, an der auch eine Kirche nur für Polizeiangehörige steht.

Wer aber hier rund um die Metrostation insbesondere an den Wochenenden zu sehen ist, sind die sogenannten Pokémons. Gerade wenn sie sich Freitag- oder Samstagabend zu Hunderten im nahe gelegenen Parque Forrestal getroffen haben und morgens auf die erste U-Bahn warten. Die Pokémons heißen so, weil ihr Vorbild eine japanische Comicserie ist. Sie tragen wie die Figuren aus dem Comic schwarze, knallrote oder knallorangefarbene Haare, strähnig-akkurat über die Ohren und die Stirn geschnitten, haben ihre Augenbrauen mit Kajalstiften nachgezogen wie ehedem die Punks, sind aber schicker gekleidet, mit engen Jeans, Marken-Turnschuhen und auch ein paar Kettchen an den Klamotten.

Die Pokémons sind die ersten chilenischen Jugendlichen, die die Pinochet-Diktatur nur vom Hörensagen kennen und der es so gut wie keiner anderen chilenischen Generation vor ihr geht. Sie definieren sich über den Konsum, über Mode, über den Pokémonstyle, sie nehmen keine Drogen, sind technologisch voll auf der Höhe und hören Reggae und Ragga. Vor allem aber: Pokémons sind völlig unpolitisch. Rebels without a cause. Ihre Anwesenheit hier an der Plaza Baquedano irritiert die Carabineros in ihrem Mannschaftswagen aber ein jedes Mal aufs Neue: Was sollen sie mit so friedlichen, aber komplett unzugänglichen Jugendlichen bloß anfangen?

In der Serie „Magische Orte“ sind bisher erschienen: Ulrichshusen in Mecklenburg (18.7.), die Karibikinsel St. Lucia (25.7.) und die Kölner Domplatte (30.7.)

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