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Schlachtfeld Körper. Tishama Doshi in Neu-Delhi.

© Tashi Tobgyal/Literaturwerkstatt

Poesiefestiavl: Der Hals und die Axt

Beim Poesiefestival Berlin erkunden Lyriker aus aller Welt , wie schnell das Gedicht auf kriegerische Auseinandersetzungen reagiert. Und sie entdecken - sehr viel schnell als Prosa und Film.

„Lass mich am Leben, Leser“, bittet die 1975 in Madras geborene Poet-Performerin Tishani Doshi. „Dieser Hals hat sich in jahrelanger Arbeit / gestählt um dieser Axt zu widerstehen / Und dieser Körper, schmal wie er ist / hat so viele Glieder an Kriege verloren.“ Die Orte der Schlachten, die sie in „Kontrakt“ beschwört, sind der in Indien so oft geschundene weibliche Körper, aber auch das Gedicht selbst, in dem sich die Autorin mit jeder Zeile bereit erklärt, ihre „Haut umzustülpen“.

Wie ihre afrikanischen Karawane-Kollegen Wanjiku Mwaurah, Alain Serges oder Sbu Simelane kommt Tishani Doshi von den „Rändern der Komfortzone“. Aus einer Welt, in der, wie sich am Freitagabend in der Akademie der Künste am Hanseatenweg zeigte, poetische Wortkunst nicht, wie der Expressionist Kurt Hiller einst „Gegen Lyrik“ polemisierte, wie „gequetschter Speck“ aus den „seelenvollen Wurstfingern einer weiblichen Muse“ geschlagen wird, sondern aus einer politischen und körperbezogenen Bewegung. Rappend wie der brasilianische Kult-Musiker Criolo, in mitreißendem Sprech-Stakkato wie bei Temye Tefsu, emphatisch wie bei Cornelius Jones oder getragen deklamierend wie bei der aus Johannesburg stammenden Philippa Yaa de Villiers.

Vom Krieg ist bei dieser 15. Ausgabe des von der Literaturwerkstatt Berlin ausgerichteten Poesiefestivals überhaupt viel die Rede. Der Bogen spannt sich vom Ersten Weltkrieg bis zu den Schlachten am Gezi-Park und in der Ukraine. Ist der Krieg eine Art Schrittmacher der Poesie, der „ungeahnte, sieghafte Zu-Ende-Bildner“, wie die Apologeten des Ersten Weltkriegs glaubten? Oder kreiert er, wie sich die Experten in Bezug auf „The Great War“ einig waren, doch nur vereinzelte avantgardistische Spitzen, Leuchtraketen über dem Schlachtfeld lyrisch-nationalistischer Propaganda?

Den deutschen Blick weitete am Montag eine vielstimmige Bild-Wort-Performance, die Kriegspoeten aus sieben europäischen Ländern zusammenführte. Wie Rilke „glühte“ man zu Beginn des Krieges auch in den benachbarten Staaten „in eins zusammen“, feierte mit Apollinaire den Krieg als ästhetisches „Wunder“, bis man in den flandrischen Schützengräben allmählich zur Erkenntnis gelangte, dass „Gott eingeschlafen“ sein muss, so der ukrainische Dichter Alfred Margul-Sperber und der Mensch dem Menschen „ein Menschenfresser“ bleibt, wie Hoyhannes Tumanyan in seiner armenischen „Seelenmesse“ intonierte.

Die poetische Mobilmachung fungierte im Ersten Weltkrieg als eine Art Social Media: Diese interessante Beobachtung des niederländischen Literaturwissenschaftlers Geert Buelens hätte man gerne konkreter ausgeführt gesehen – zulasten von Allgemeinplätzen wie der Bemerkung, dass das große Schlachten keinen förderlichen Einfluss auf die lyrischen Formen hatte. Der emotiv grundierte Appell-Charakter von Gedichten war immerhin geeignet, das schnelllebige Kriegsgeschehen einzufangen, die physische und psychische Ausnahmeerfahrung zu verarbeiten und sie in eine kriegsbedingt eingeschränkte publizistische Produktion einzuspeisen.

Dass einige Granaten des Ersten Weltkriegs nach wie vor nicht entschärft sind, zeigt das Beispiel Türkei, das sich bis heute seiner Schuld an den Armeniern nicht offenenen Auges stellt und Nationalismus auch durch innere Kriege begünstigt. Gespenstisch mutet es an, wenn die im Ersten Weltkrieg erfundene Gasmaske wieder auftaucht in einem Gedicht von Gökçenur C. mit dem Titel „Gasmaske, Taucherbrille, Talkum und Milch“ als Gegenmittel gegen die Reizgasangriffe der türkischen Polizei auf die Gezi-Aktivisten. „Irgendwie schienen sich alle zum ersten Mal zu küssen und die Bäume zu achten“, lautet eine Gedichtzeile von Onur Behramoglu, die die Begeisterung, den anfänglichen „Zauber“ und die „Liebe“ besingt, die die türkische Zivilgesellschaft mit der neuen Hackergeneration auf dem Taksim zusammenschweißt.

Die dabei entstehende Street Art Poetry, die ausschnittweise vorgestellt wurde, erzählt von der Faszination des Aufbruchs, aber auch von der Ernüchterung und vom Schrecken. Geht nicht auf die Balkone, warnt etwa Kaan Koc, ihr könntet sterben. „Der Wind hat seine Geduld verloren, kommt auf mich zu / Panzerwagen, Gewehre, Kinder, Erste Nächte, jungfräuliche Tode / Das Sauberste. Die nach und nach erfahrene Ohnmacht des Wortes verdichtet die Lyrikerin Nesilhan Yalman: „Das Gedicht ist in die Stadt gekommen /– vergesst es – / es gibt keine Verständigung ab nun.“ Und Gökçenur C. konstatiert: „Einst nahm ich an / die Worte böten Schutz.“

Operative Literatur hätte man das vor vierzig Jahren genannt. Auch in diesem Fall ist das Gedicht reaktionsschneller als der Film oder die Prosa, so Baris Atay Mengülü in der lebhaften Diskussionsrunde über die aktuelle Situation des Protests, in der immer wieder die verletzten und toten Kinder und Jugendlichen zur Sprache kommen. Sie haben sich mehr als alles andere ins Gedächtnis der Aktivisten eingebrannt.

Wie ein ferner Gruß wirkt da die kleine Ausstellung „Kling und Pastior: Text – Stimme – Bild“ im Akademie-Foyer, in der unter anderem eine Zeile aus Oskar Pastiors Gedicht „Die Tafelmusik“ („Tino ist im Garten und sieht eine Orange“) in Bilder übersetzt wird: aus ironisch-metaphysischer Perspektive von Ingomar von Kieseritzky, labyrinthisch von Brigitta Falkner und kindlich lustig unterm Vergrößerungsglas von Paul Maar.

Widerstand und Krieg sind beim noch bis Freitag dauernden Poesiefestival auch Mittwoch (Ziviler Ungehorsam) und Donnerstag (Thementag Ukraine) ein Thema.

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