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Andreas Petersen: Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren: Ein Jahrhundertdiktat. Erwin Jöris. Marixverlag, Wiesbaden 2012. 520 Seiten, 24,90 Euro.

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Politische Literatur: Zeuge des Jahrhunderts

„Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren“: Andreas Petersen über das dramatische Leben des Kommunisten Erwin Jöris.

Geschichte wird von Siegern geschrieben. Ein Sieger ist Erwin Jöris gewiss nicht, nur ein Überlebender. Und Geschichte wird bei ihm von ganz unten erzählt, aus dem Blick eines Opfers jenes 20. Jahrhunderts, als eine Geschichte des Leidens, mörderischer Ideologien und der Selbsttäuschung, der brutalen Niederlagen und der verratenen Träume. Der am 5. Oktober 100 gewordene Tischler Erwin Jöris hat das Jahrhundert zwischen Kaiserreich, Nationalsozialismus und Stalinismus, zwischen Krieg, Revolution, Illegalität, Konzentrationslager und Gulag in Gänze durchmessen, erlebt, erlitten – und überlebt. Was für ein Jahrhundertpanorama! Der Weg des Lichtenberger Kommunisten Jöris gehört zu jenem großen, selten erzählten Kapitel der kleinen Leute, gefüllt von Entbehrungen und Not, vom bloßen Überleben in den Stürmen und Wendungen der Weltgeschichte. Das packende Lebensdiktat auf 500 Seiten, aufgeschrieben vom Schweizer Historiker Andreas Petersen, zeigt eine Persönlichkeit, die sich nie duckte, nie verbieten ließ, die Wahrheit zu sagen, egal ob Parteiräson oder mörderische Regime dies als Verrat brandmarkten.

Sohn seiner Klasse, diese hohle Formel von KPD bis SED, auf den heute in Köln lebenden Erwin Jöris traf sie zu und bestimmte sein Leben. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie, der Vater ein Barrikadenkämpfer der Revolution und Bewunderer von Rosa Luxemburg und Karl Liebknechts, wuchs der 1912 geborene Jöris in die kommunistische Partei hinein. Wie eng verbunden die KPD damals mit dem Leben der Arbeiterschichten war, welch wichtige Rolle der kommunistische Jugendverband und die Arbeitersportvereine mit den Radfreizeiten an Brandenburger Seen spielte, ist hier zu spüren. Auch die Utopie einer dem Sozialismus entgegenstrebenden Sowjetunion konnte in diesem Milieu seine ganze Kraft entfalten. Jöris wird Jugendfunktionär und Agitator, der bei jedem KPD-Aufmarsch dabei ist und keiner Auseinandersetzung mit der preußischen Polizei aus dem Weg geht. Der Tod zweier von der Polizei erschossener Jugendfreunde ist dem schlagfertigen Jöris moralische Pflicht, trotz wachsender Kritik an der KPD festzuhalten.

Beklemmend – und für den entsetzten Jöris desillusionierend – erlebt er, wie eine realitätsentrückte KPD-Führung nicht die NSDAP, sondern die von Stalin als „sozialfaschistisch“ eingestufte SPD als Hauptfeind bekämpft. Vollends unglaubwürdig wird die KPD, als sie sich mit den Nazis im Generalstreik gegen das sozialdemokratisch geführte Preußen verbündet. Die Mitverantwortung der KPD für die deutsche Katastrophe ist selten so bedrückend geschildert worden. Erst nach dem Sieg der Nazis, als er im Konzentrationslager einsitzt, wird Jöris erfahren, wie nah man den ebenfalls inhaftierten Sozialdemokraten ist. Die KPD-Führung aber propagiert weiterhin das baldige Ende des Nazi-Spuks, obwohl die im Untergrund agierenden KPD-Gruppen zerschlagen werden.

Aus dem KZ entlassen, wird Jöris mit falschem Pass in die Sowjetunion geschleust. Für Jöris ist es das gelobte Land, die Heimat der Revolution und des Sozialismus; hier erlebt er im Moskauer Hotel Lux die kommunistische Prominenz. Anders als viele berühmte Besucher jener Jahre, die nach ihrer Rückkehr Lobeshymnen trotz nur eines oberflächlichen Einblick verfassten, erfährt der Arbeiter Jöris jahrelang die enttäuschende Realität des sowjetischen Alltags. Hinter dem Ural, wo die Sowjetunion in gigantischen Fabriken den großen Sprung zur Industrienation schaffen möchte, erfährt Jöris täglich die Unzulänglichkeiten und Widersprüche, die hungernden Russen und die Misswirtschaft, vor allem aber den beginnenden Terror. Die Beschreibung des von Stalins grenzenloser Paranoia vergifteten Landes, der Mitte der 30er Jahre fast die gesamte Führung der sowjetischen KP eliminiert, die allgegenwärtige Angst der Menschen, von den Mordschergen des Geheimdienstes abgeholt zu werden, gehört zu den stärksten Passagen des Buches.

Was kann ein Mensch alles ertragen?

Jeder bangt ums Überleben; täglich werden tausende Menschen abgeholt und als angebliche Spione und Saboteure erschossen. Dem stalinistischen Furor fallen zudem mehr führende deutsche Kommunisten zum Opfer als von den Nazis während ihrer gesamten Herrschaft ermordet werden. Chancen haben nur opportunistische Überlebenskünstler wie der spätere DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck oder SED-Chef Walter Ulbricht, die jede Wendung Stalins flugs bejubeln. Auch Jöris gerät in die Maschinerie des Terrors und der fingierten Anklagen und Denunziationen, und landet als „faschistischer Spion“ in den Zellen des sowjetischen Geheimdienstes.

Was kann ein Mensch alles ertragen, diese Frage stellt sich immer wieder in dem von Petersen sorgfältig aufbereiteten, klug in die großen Zusammenhänge eingeordneten und akribisch recherchierten Leben – mit Besuchen in Jöris damaliger Fabrik im Ural oder in den Aktenkellern des Moskauer Geheimdienstes. Was dieser Zeuge des Jahrhunderts erlebt hat, ist mehr, als in ein Leben passt. Und jede Wendung ist ein neuer Schlag. Der überraschende Hitler-Stalin-Pakt, der den deutschen Überfall auf Polen 1939 absichert, macht Jöris erneut zum Opfer: Wie viele andere KPD-Genossen wird Jöris von Stalin an die Nazis ausgeliefert – wo er wegen „Hochverrats“ gesucht wird. Auch hier ein Schock: Anders als in der sowjetischen Propaganda, wo beständig vom baldigen Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft und darbenden Menschen gesprochen wurde, erlebt Jöris eine zufriedene und gut ernährte Arbeiterschaft, weit entfernt von den hungernden Sowjet-Proletariern.

Zwei Jahre Freiheit bleiben Jöris nach seiner Entlassung, verfemt als „Verräter“ von seiner Partei und umgeben vom Misstrauen seiner eigenen Familie, die nicht an Stalins Terror glauben will, bis die Nazis Polen überfallen und Jöris eingezogen wird: Bis zum bitteren Ende muss er von Frankreich bis zur Ostfront dem so empfundenen Feind dienen, in Russland als ein Teil der Vernichtungsmaschinerie von Wehrmacht und Gestapo kämpfen gegen das Volk kämpfen, das er immer noch als Heimat der Arbeiterklasse empfindet. Verwundet kommt er in Gefangenschaft, aus der er als körperliches Wrack zurückkehrt.

Und dennoch bleibt die Hoffnung an einen Sozialismus auf deutschem Boden. Es ist dieser Glaube, der in dem historisch reichen wie spannend geschriebenen Buch verblüfft; erklärbar nur, weil für Jöris dieser utopische Sozialismus trotz alledem der moralische Sieger der Geschichte bleibt. Er wird Mitglied der SED, trotz seiner Abscheu vor den aus Moskau zurückgekehrten Ulbricht, Mielke und Pieck, trotz der Begegnung mit einem Funktionär, der Jöris einst bei Stalins Geheimdienst denunziert hat. Aber Jöris registriert schnell, wie wenig dieser Sozialismus mit seiner Utopie gemein hat. Erneut hat seine offene Kritik brutale Folgen: 1949 wieder Verhaftung, monatelange Verhöre, wieder eine Anklage als „faschistischer Spion“. Verurteilt zu 25 Jahren Zwangsarbeit im Gulag. Und wieder überlebt er: diesmal in Workuta, im schlimmsten aller Lager, wo hunderttausende Häftlinge starben an unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Hunger und furchtbarer Kälte.

Was für ein Hohn, dass ausgerechnet er dort mit ehemaligen SS-Schergen zusammen im Bergwerk schuften muss. Auch nach dem Tod Stalins, der die Gulag-Welt erschüttert und die Zwangsarbeiter aufbegehren lässt in Streiks und Arbeitsniederlegungen, bleibt das Gulag-System bestehen. Erst Bundeskanzler Konrad Adenauer holt 1956 die letzten Kriegsgefangenen nach Deutschland – auch Jöris, der kurz danach mit seiner Frau aus der DDR flieht. Bis zur Rente ist er Arbeiter in Köln. Späte Genugtuung: 1995 wird er in Moskau rehabilitiert. Ein Leben voller Niederlagen? Alles verloren, außer dem Leben selbst – was wohl das Erstaunlichste dieses Jahrhundertpanoramas ist.

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