zum Hauptinhalt

Pop: Heile dich selbst

Die Blumenkinder werden erwachsen: Mit dem Album „Congratulations“ begibt sich das New Yorker Elektropop-Duo MGMT auf eine rockhistorische Schnitzeljagd.

Lass uns ein bisschen Musik machen, Geld verdienen und Models heiraten. Wir nehmen Heroin in Paris, fahren schicke Autos und kaufen uns Inseln. Diesen überdrehten Rockstar-Traum vertonten zwei junge Studenten aus Connecticut zu Beginn des Jahrtausends in einem nicht ganz ernst gemeinten Electro-Popsong – und fanden sich ein paar Jahre später in der besungenen Glitzerwelt wieder. Ohne Heroin und Inseln zwar, aber mit kreischenden Teeniefans, Titelgeschichten und Konzertreisen um die ganze Welt.

„Das war eine seltsame Wendung“, sagt Andrew VanWyngarden über die Erfolgsgeschichte des Songs „Time to pretend“. Er lächelt ein wenig in die Berliner Frühlingssonne, als er bei einem Spaziergang im Tiergarten von den Anfangstagen seines Duos MGMT erzählt. Damals sei es für ihn und seinen Partner Ben Goldwasser schon eine große Sache gewesen, überhaupt ins Ausland zu reisen – vom Jetset ganz zu schweigen. Doch nachdem die Band, die sich anfangs Management nannte, von einem Majorlabel unter Vertrag genommen worden war und ihr Debütalbum „Oracular Spectacular“ mit seinen drei fantastischen Hitsingles 2008 flächendeckend für Begeisterung sorgte, kamen sie ein Jahr lang praktisch gar nicht mehr nach Hause.

„Der unverhoffte Erfolg hat uns zwar viele Möglichkeiten eröffnet, war andererseits aber auch ziemlich traumatisch“, sagt VanWyngarden, Sänger und Gitarrist von MGMT. „Wir waren physisch total erschöpft und frustriert davon, wie die Medien uns als ständig feiernde Popstars porträtierten.“ Dabei zeigten sie sich etwa in ihren Videos eher als naturverliebte Hippiekids, die im Wald oder am Strand herumtanzen. Auf der Bühne hatte VanWyngarden stets ein buntes Tuch im Haar und trat gelegentlich auch mal im Kleid auf.

Im Frühjahr 2010 haben MGMT das Blumenkinder-Outfit eingemottet. Beim Konzert zur Vorabpräsentation des neuen Albums „Congratulations“ im Berliner Columbiaclub trägt der Sänger seine Haare im modischen Wuschellook, dazu ein altrosa Hemd und eine pinkfarbene Hose. Keyboarder Ben Goldwasser hat Haare und Bart deutlich gestutzt. Er besitzt neuerdings eine schwarze Hornbrille und wirkt fast wie ein Computernerd. Wären da nicht noch die drei langmähnigen Mitglieder der Begleitband, würde nichts mehr an die Flowerpower-Zeit von MGMT erinnern – außer der Musik natürlich. Die ist immer noch höchst psychedelisch, witzig und voller Verweise.

„Wir begannen fünf Wochen nach Tour-Ende mit den Arbeiten an den neuen Songs und verarbeiten darin, was mit uns seit dem ersten Album passiert ist. Es war wie eine Musiktherapie.“ Teil des Heilungsprozesses war offenbar, keine Hits wie „Kids“ oder „Electric Feel“ mehr zu schreiben. Ohrwurmhafte Keyboard-Motive, die sein Markenzeichen waren, vermeidet das Duo aus Brooklyn mittlerweile völlig. Auch das Strophe-Refrain-Strophe-Muster scheint die beiden 26-Jährigen nicht mehr zu interessieren. Stattdessen setzen sie auf Unvorhersehbarkeit und Wandlungsfähigkeit.

So gleicht die erste Single „Flash Delirium“ einem schillernden Paradiesvogel, der sich ständig neu in Positur setzt. Es ist kaum möglich, nach den etwas mehr als vier Minuten randvoll mit theatralischem Aufbrausen, plötzlichem Rückzug und erneutem Jubilieren zu sagen, wo dieses Lied sein Zentrum hat. Mitsingen dürfte selbst sehr eifrigen Fans nur schwer gelingen, denn einen erkennbaren Refrain hat der Song nicht.

Einfacher zu verstehen ist „Someone’s Missing“, das wie ein langsam anwachsender Stapel aufgebaut ist. Andrew VanWyngarden singt im Falsett mit viel Hall auf der Stimme, begleitet von einer E-Gitarre und sanft angeschlagenen Trommeln. Dann gesellen sich Bass, Orgel und eine zweite Gitarre dazu. Das Tempo steigt, der Drummer schlägt richtig zu, ein funky Motiv taucht auf und VanWyngarden wiederholt immer wieder die Zeile „It feels like someone’s missing“. Das ist wunderschön melancholisch – nur leider schon nach zweieinhalb Minuten vorbei. Es wäre einfach gewesen, aus diesem Song mehr zu machen, doch MGMT lassen den Diamanten nur kurz aufblitzen und packen ihn dann gleich wieder ein.

Mit „Congratulations“ wagt das Duo einen ähnlich mutigen Schritt wie ihre Brooklyner Kollegen Yeasayer mit deren kürzlich erschienenem zweiten Album. Haben die Yeasayer sich mehr in Richtung Tanzfläche bewegt, schwelgen MGMT in ihrer Liebe zu amerikanischer Westcoast-Musik der sechziger Jahre und zu krachigen Britpop-Kapellen der Achtziger. Andrew VanWyngarden spricht offen über die Einflüsse. Die Beach Boys, Love und Captain Beefheart seien ihnen wichtig, genau wie Pink Floyd oder die Television Personalities, deren Sänger Dan Treacy sie sogar einen Song gewidmet haben – im Stile von The Deep Freeze Mice, einer anderen britischen NewWave-Band. Mit dem ehemaligen Spaceman-3-Mitglied Peter „Sonic Boom“ Kember stand ihnen zudem eine Legende des Post Punk als Koproduzent zur Seite. Auch er brachte einen Haufen Platten mit ins Studio, die den Sound von „Congratulations“ beeinflussten.

Und so funktioniert das Album wie eine anspruchsvolle Schnitzeljagd. Andrew VanWyngarden sagt: „Wir haben überall kleine Sounds und Referenzen hinterlassen und hoffen, dass die Leute beim mehrmaligen Hören immer etwas Neues entdecken.“ Ganz besonders gilt das für sein Lieblingsstück „Siberian Breaks“, ein zwölfminütiges Medley, das aus sechs Teilen besteht. Mal wähnt man sich in einem Leonard-Cohen-Song, dann kommen plötzlich The Byrds und The Mamas & the Papas um die Ecke. Und am Ende grüßen französische Synthie-Bands.

Beim Berliner Konzert wurde der Song reserviert aufgenommen. Ein bisschen Zeit werden die Fans brauchen, um sich auf die neuen MGMTs einzustellen.

„Congratulations“ erscheint am 9. April bei Sony.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false