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Primal-Scream-Album "More Light": Goethe im Visier

Der Sänger Bobby Gillespie galt schon als Drogenwrack. Doch jetzt veröffentlicht er mit seiner Band Primal Scream ein grandioses Album. Eine Begegnung.

Goethe? Den hat Bobby Gillespie nie gelesen. Er schüttelt den Kopf und grinst. Weil er nicht zum ersten Mal von einem deutschen Journalisten auf den Großschriftsteller angesprochen wird und inzwischen weiß, wie dessen berühmte letzte Worte angeblich lauteten: „Mehr Licht“. Genauso hat Gillespie das neue, ziemlich monströse Album seiner Band Primal Scream genannt: „More Light“. Was für Goethe der Abschiedsseufzer war, markiert für Gillespie einen Neuanfang. „Als ich eines Morgens die Vorhänge vor meinen Fenstern öffnete und grelles Tageslicht in die Wohnung fiel, dachte ich: More Light, das ist ein guter Titel. Bislang haben unsere Platten eher negative, klaustrophobische und ziemlich aggressive Titel gehabt, Vanishing Point, XTRMNTR oder Riot City Blues. Jetzt ist unsere Musik klarer, weniger hart, und auch die Botschaft ist klarer.“

Passenderweise sitzt der Sänger an diesem frühsommerhaften Maivormittag in einer lichtdurchfluteten Hotelsuite in Berlin-Mitte, durch die offene Balkontür dringt Vogelgezwitscher. Mehr Licht geht kaum. Bobby Gillespie ist 50, durch seinen verwuschelten, vogelnesthaften Pilzkopf ziehen sich erste graue Fäden. Er trägt ein rotes Hemd in punkigen Leopardenfellmuster und eine ebenso punkige, löchrige Blue Jeans und macht dafür, dass er einmal als eines der größten lebenden Drogenwracks des Rock’n’Roll galt, einen ungemein gesunden Eindruck.

Die Drogen – hauptsächlich Ecstasy und Kokain – liegen hinter ihm, aber er bereut die wilden Jahre nicht. Der Rockstar ist inzwischen Familienvater, der jüngere seiner beiden Söhne heißt Lux. Der Name kommt aus dem Lateinischen und bedeutet: „Licht“. Lux ist 9 und kann, wie Gillespie beteuert, schon besser trommeln als der Vater. Gillespiehat seine Karriere einst als Trommler gestartet. Mitte der achtziger Jahre bediente er bei The Jesus and Mary Chain, die sich mit ihrem nihilistischen Feedbackgetöse als Glasgower Velvet-Underground-Wiedergänger inszenierten, das Schlagzeug. Es bestand allerdings, passend zum düsteren Minimalismus der Band, bloß aus der kleinen Trommel und einem Tomtom.

„More Light“ beginnt mit Synthie- und Bläsergewaber, aus dem sich eine verhallte Saxofonmelodie und fräsende E-Gitarrenakkorde schälen. Das Stück, ein neunminütiger Noiserockklopper, trägt den Titel „2013“ und ist eine halb kämpferische, halb resignierte Protesthymne, ein Aufschrei gegen Niedergang, Verdummung und Ausverkauf. Das Saxofon blökt, die Gitarren lärmen, Gillespie skandiert Parolen wie „Punk rock came and went and nothing changed“, „Every generation buys the lie“ oder „What happened to the voices of dissent?“. Ein Abgesang.

„Ich glaube an die Bedeutung des Rock’n’Roll“, sagt Gillespie. „Aber er hat nicht mehr die Kraft, die er einst besaß“. Warum? „Weil die Leute sich ruhigstellen lassen, heute ist sogar Indierock etwas, was die Menschen einlullt.“ seine Stimme klingt ruhig, etwas müde. Doch Gillespie ist ziemlich wütend. „Eigentlich leben wir in revolutionären Zeiten. Aber es fehlt das revolutionäre Bewusstsein. Wenn ich heute Popmusik höre, höre ich keinen Widerspruch, kein Nicht-Einverstanden-Sein. Da ist keine Wut, kein Schmerz, nichts.“ Dass Pop und Politik zusammenhängen, dass ein Sänger eine Haltung braucht, an diesem Credo hält Gillespie fest. Primal Scream gehörten zu den „C 86“-Bands, benannt nach einem Sampler des Magazins NME, die sich als Indierock-Opposition gegen die Politik der Thatcher-Regierung verstanden. Heute singt er: „Thatchers children make their millions / Hey, remember Robespierre!“ Was er empfand, als er vor einem Monat hörte, dass Margaret Thatcher gestorben war? „Nichts. Sie war eine alte und kranke Frau. Und ihre Nachfolger setzten ihren Neoliberalismus fort.“

„More Light“ ist in London, wo Gillespie seit den frühen neunziger Jahren wohnt, und in Los Angeles entstanden. Dort lebt der Produzent David Holmes, ein Nordire, der mit seinen Arbeiten für die Filme von Steven Soderbergh bekannt wurde. So klingt das zehnte Studioalbum der Band über weite Strecken tatsächlich ziemlich filmisch. Die schunkelnde Ballade „Walking With the Beast“ ruft mit Beatles- und Beach-Boys-Zitaten Erinnerungen an den Sommer der Liebe wach, und die indisch inspirierte Psychedelia-Suite „River of Pain“ mündet in ein wolkiges Streicherarrangement wie aus einem klassischen Hollywood-Melodram. Besonders eindrucksvoll: das wolfsartige Geheul auf dem „Elimination Blues“, der das Genre Blues mit stoischen Bassläufen, ein wenig E-Gitarren-Gefauche und seufzenden Zeilen wie „Long black hair / Eyes of brown / My baby’s gone / She’s leaving town“ auf das Wesentliche reduziert: den Schmerz.

Das Wolfsgeheul stammt von Robert Plant. Mit dem Led-Zeppelin-Sänger ist Gillespie seit den späten neunziger Jahren befreundet. Es war wohl eine schicksalhafte Fügung, dass er ihn zufällig in einem Londoner Café traf, als er gerade selber am Gesangspart des „Elimination Blues“ gescheitert war. „Dafür ist meine Stimme nicht hoch genug. Robert sagte: Es freut mich, wenn ich etwas für dich tun kann. Einen Tag später kam er ins Studio und machte die Aufnahme.“ Gillespie ist Fan von Led Zeppelin und der Rolling Stones, er schätzt aber auch den Krautrock von Can und Neu!, eine Vorliebe, die sich bei „More Light“ in den sanft dahinfließenden Songs der zweiten Albumhälfte ausdrückt.

Gillespie war wirklich einmal an einer Revolution beteiligt: der Rave-o-lution. Anfang der neunziger Jahre waren Primal Scream eine der Bands, die Rock- und Clubmusik fusionierten, indem sie die elektrische Gitarren der Alternative Rock mit den elektronischen Rhythmen des Acid House verbanden. Nordenglische Wiesen wurden zum Schauplatz endloser Raves, das Primal-Scream-Album „Screamadelica“ ist ein Meilenstein der Ära. „Es ging alles sehr, sehr schnell. Wir hatten eben noch in Kellern gespielt und unternahmen nun Tourneen durch Australien und Japan. Aber der Druck wurde größer, und ein Teil der Band stieg auf harte Drogen um. Heroin hat unsere Kreativität gestoppt.“ Trotzdem sagt Bobby Gillespie: „Es war eine gute Zeit.“

„More Light“ ist bei First International / Ignation Records erschienen.

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