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Kultur: Pop und Tiefe

Ein Buch mit Texten des Kritikers Harald Fricke

Als Harald Fricke vor vier Jahren auf einem der seltenen Konzerte der legendären New Yorker Frauen- und Funkband ESG war, musste er zunächst einmal seufzen, saufen und sich die Haare raufen: viel zu wenig Publikum, beklagte er sich in seinem Bericht für die taz, das Konzert hätte mindestens so viel Besucher wie die Love Parade verdient, und überhaupt hatte er das schöne Gefühl, „als wären einem sämtliche Umzugswagen vom 17. Juli über den Schädel gerollt – House, Dubstep und Old-SchoolElektro inklusive“.

Gründe zum Seufzen, Saufen und Haareraufen hätte der 2007 im Alter von nur 44 Jahren verstorbene Pop- und Kunstkritiker genug gehabt, interessierte er sich doch nur zu gern für das Randständige auf den Gebieten Kunst, Pop und Film, für das Kaputte, Widerständige, andere, auch Beknackte, ohne dabei den Mainstream aus den Augen zu verlieren. Dauernd über mangelnden Zuspruch eines großen Publikums zu lamentieren war trotzdem seine Sache nicht. Viel lieber begeisterte er sich immer wieder für die neuesten Merkwürdigkeiten aus der Popkultur und ihren angeschlossenen Bereichen Kunst, Musik und Philosophie: für Aphex Twin, Antony, Minimal Techno oder ESG wie für die junge britische Kunst, als die noch keiner kannte, für die Schriften von Deleuze/Guattari oder Qrt genauso wie für Filme von Larry Clark.

Wie vielfältig die Interessen von Fricke waren, wie universal er dachte und schrieb, das zeigt jetzt noch einmal ein Band mit Texten, die er für die taz und zahlreiche Ausstellungskataloge geschrieben hat. Selbst die taz-Texte erscheinen im Nachhinein nicht bloß für den Tag geschrieben, sie haben immer einen Mehrwert. So wird bei ihm aus dem Bericht über die Love Parade 1992 gleich eine Generationenbeschreibung und ein Nachdenken über das Tanzen an sich, bei dem Schiller genauso zurate gezogen wird wie die Chaostheorie und Gilles Deleuze; der Besuch von Rainald Goetz’ Frankfurter Poetikvorlesung animiert ihn nicht nur, über dessen Buch „Rave“ zu schreiben, sondern sich gleich über das „Betriebssystem Club“ und über das Verhältnis von Realität, Gegenwart und Literatur Gedanken zu machen. Und sein Motown-Label-Porträt ist gleichzeitig eine Sozialgeschichte der Stadt Detroit von den vierziger bis in die siebziger Jahre. Richtiggehend lehrreiche Aufsätze sind seine Texte über die Drag Queens, die Künstlerin Louise Bourgeois oder Popmusik als genderspezifische Kategorie. Diese zeigen, dass Fricke ein Kritiker mit fast enzyklopädischem Wissen war – und dazu auch noch ein feiner Erzähler.

Denn Wissen, Begeisterung und eine politische Haltung zu vermitteln allein reichten ihm nicht, all das wollte auch schön und gut aufgeschrieben werden. Harald Fricke verstand sich auf den Sound in seinen Texten, und so ist es nicht zuletzt ein ästhetisches Vergnügen, diese zu lesen. Gerrit Bartels

Harald Fricke: Texte 1990 – 2007. Hrsg. und mit Nachworten von Jens Balzer, Cord Riechelmann, Detlef Kuhlbrodt, Bettina Allamoda. Merve, Berlin 2010. 158 S., 14 €.

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