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Pop: Balz in Buenos Aires

Das Tanzmusical „Tanguera“ zu Gast in der Berliner Staatsoper

Tango als Geschichte Argentiniens. Er erzählt von europäischen Immigranten, die um 1900 in der Hafenstadt Buenos Aires stranden. Und von landflüchtigen Compadritos, urbanen Wiedergängern der Gauchos, die mit verletztem männlichen Stolz und ihrer Affinität zu langen Messern das Hafenviertel La Boca unsicher machen. Wo diese Menschen zusammentreffen – in den Innenhöfen brüchiger Mietskasernen, in zwielichtigen Bordellen und schummrigen Cabarets –, da entsteht ein Tanz, der vor allem eines ist: sexuelles Vorspiel. Das Musical „Tanguera“ spielt genau in diesem Milieu. Und inszeniert dabei eine Variante der volkstümlichen Figur der Milonguita: das unschuldige Mädchen, verführt und verdorben durch einen zwielichtigen, skrupellosen Mann.

Auf der Bühne sieht das so aus: Giselle, eine junge Einwanderin aus Paris, gerät in die Fänge des Zuhälters Gaudencio, wird aber vom Hafenarbeiter Lorenzo begehrt, der um die Liebe und Freiheit von Giselle kämpft – erfolgreich. Und doch erfolglos. Denn der Tango ist nicht fröhlich, er kennt kein Happy End. Vielleicht würde „Tanguera“ aus diesem Grund nicht für den Broadway taugen. Und vielleicht erklärt das tragische Finale auch den Erfolg, den das Stück in Argentinien feierte: 18 Monate lief es im Teatro Colón von Buenos Aires, ausgezeichnet von „El Clarín“, der größten Tageszeitung des Landes, als bestes Musical des Jahres 2002.

„Wir sollten unsere Geschichte kennen“, heißt es im Abgesang, „damit sich die Geschichte nicht wiederholt.“ Funktioniert eine solche Botschaft im Musical-Gewand? Zumindest Tango-Puristen dürften hier die Nase rümpfen. Für die musikalischen Arrangements der Tangos ist immerhin Lisandro Adrober verantwortlich, der mit Größen des Genres wie dem Osvaldo Pugliese-Orchester, Roberto Goyeneche und Osvaldo Piro zusammengearbeitet hat. Allerdings verlegt sich Adrober in „Tanguera“ stark aufs Stereotyp: Evergreens wie „La Cumparsita“ oder „El Choclo“ erklingen da – erkennen Sie die Melodie? Ansonsten sind, leider nur im Playback,Streicher zu hören, eine Harfe, Holzbläser, durchwirkt vom Wimmern des Bandoneons.

Auch tänzerisch herrscht ein bunter Anachronismus. Dort, wo es eigentlich um den Proto-Tango geht, der noch keine geregelten Schritte kennt, sieht man etliche Beinhaken und Voleos, viel emporgeschwungene Beine, akrobatische Cheerleader, balletteske Figuren, sogar etwas Jazzdance. Manchmal eine Ahnung von beschwingter Milonga, von intimem Tango de Salón. All das souverän und äußerst präzise getanzt, makellos bis hin zu den Gruppenchoreografien, bei denen 22 Tänzer beteiligt sind.

Auf der Bühne daher: stilisierte Moderne, Tango-Fusion, Zeitlosigkeit in den Bewegungen. Dass allein dem szenischen Tanz die Aufgabe zufällt, die komplexe Handlung zu erklären, erweist sich jedoch als kleine Schwäche der Regie. Denn der Tanz ist immer nur metaphorisch, er bietet allenfalls eine Ahnung vom Geschehen oder spielt darauf an. „Tanguera“ zeigt zwar Figuren, aber keine Charaktere. So muss das deutsche Publikum sich mit dem Programmheft begnügen oder aber dem die Handlung kommentierenden spanischen Gesang lauschen.

Die Geschichte, auch die des Tangos, verlangt also Vorkenntnisse. Dieses Manko macht allerdings die Dramaturgie der Show wieder wett: Vorzüglich der Rhythmus der Szenen, dazu eine wunderbare Beleuchtung, die, ebenso wie das Bühnenbild, minimalistisch wirkt und den Blick aufs Wesentliche konzentriert. Die Bühne wird in eine Art historische Patina getaucht, changiert farblich zwischen den sandgrauen Hafenbohlen und dem samtroten Plüsch des Cabarets. Dazu Schlaglichter als Hell-Dunkel-Malerei, die den gewalttätig erotischen Nährboden des Tanzes sichtbar macht. Zum Vorschein kommt ein Tanz als virile Gebärde, etwa wenn zwei Männerpaare am Hafen eine Milonga tanzen. Oder ein Tango als Disput zwischen Gaudencio und Lorenzo, die beide im conventillo, der wellblechernen Mietskaserne, um die Gunst des Mädchens buhlen: hier wird die Gewalt spürbar, die sich dann ganz und gar im komplizierten Hin und Her der Unterkörper, der dramatischen Beinarbeit, entlädt.

In solchen Details, wo die männliche, bruststolze und messerbewehrte Gewalt so plötzlich wie nahtlos in den Tanz übergeht, zeigt das Musical seine Stärke. Musical? Eher ist „Tanguera“ eine Fantasie über den Tango, der sich hier zum Glück weder als Zähmung durch die Quadratur in europäischen Ballsälen noch durch die folkloristische Vision der Argentinier zeigt. Im Grunde ist es den Machern von „Tanguera“ gelungen, den Tango im kulturell kriselnden Argentinien noch einmal identitätsstiftend aufzubereiten. Und damit gehört auch „Tanguera“ zur Geschichte, auch der des Tangos.

Bis 22. Juli; www.staatsoper-berlin.de

Roman Rhode

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