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Transmediale

© Promo

Festival: Knüppeln bei Kerzenlicht

Abschaltung des Verstands: Das Festival Club Transmediale lotet die Grenzen der Musik aus.

Große, wirre Augen irren über die Bühne. Der dazugehörige Körper zuckt bei jedem Drumschlag zusammen: „Yee-Haaw!“. Hoho, wo sind wir denn hier gelandet, im Maria am Ostbahnhof, gewiss, doch wer ist der ältere Herr mit Gleitsichtbrille und Hörgerät, der um vier Uhr morgens im schrillen Cowboy-Outfit über die Bretter stampft und mit einem Kavalleriehorn zum Angriff bläst? Es ist der 60jährige Norman Carl Odam aus Texas, besser bekannt als Legendary Stardust Cowboy, der mit seiner Debüt-Single „Paralyzed“ von 1968 David Bowie zu seinem Ziggy Stardust anregte. Welch Idee, dieses Original des Hillbilly-Rock einzuladen, um zusammen mit dem Berliner Slide-Guitar-Poeten Kraftpost („Der Blues kam zu mir durch das Telefon“) und dem Schweizer Blues-Trash-Gospel-Prediger Reverend Beatman („Halleluja-Suck-My-Cock-Oh-Jesus!“) ein Panorama durchgeknallter White-Trash-Romantik abzufackeln, während nebenan die zehnköpfige Band Chrome Hoof in silbernen Mönchskutten mit zähflüssigem Alien-Disco-Metal-Funk das Erdenvolk verwirrt.

Ja, es ist der blanke Wahnsinn. Das Motto der neunten Ausgabe des Musikfestivals Club Transmediale könnte kaum besser gewählt sein: „Unpredictable“ (Unberechenbar). Schließlich kann man nie wissen, was hier als nächstes kommt. Auch in diesem Jahr haben die Macher der CTM wieder ein mutiges Programm zusammengestellt. Alles in Frage zu stellen – das ist der wichtigste Akt, der die Klangabenteurer bei ihrer Suche nach neuer Energie verbindet.

So bringt der Amerikaner Mark Bain tatsächlich Gebäude zum Erzittern, wenn er mit Ultraschalltechnik seismische Gebäudeschwingungen in dröhnende Vibrationen umsetzt, die erst kaum wahrnehmbar und dann fast nicht auszuhalten sind. Hart an der Grenze arbeitet auch der Turntable-Artist Christian Marclay, der drei ältere Plattenspieler zur Tonerzeugung benutzt, die kein Amateur-DJ geschenkt nehmen würde, wobei die Geräuschereignisse von Flo Kaufmann direkt auf Vinyl-Rohlingen mitgeschnitten werden, um dann wieder als neues Spielmaterial auf Marclays Tellern zu landen. Da scratcht und loopt es durcheinander, und es hört sich an, als ob Tausende Kakerlaken über einen Mischpult herfallen.

Beschaulicher geht es im Zeiss-Großplanetarium zu, wo der Mexikaner Murcof unter dem Sternenhimmel sein neues Album „Cosmos“ vorstellt und das Publikum auf der Suche nach neuen Klangregionen mit flirrender Elektronik durch Sphären prickelnder Klangkonstellationen schickt, bevor der Weg vom Himmel direkt in den Vorhof der Hölle führt: Im Maria kriecht das norwegische Black-Metal-Duo Utarm mit zeitlupengedehnten Schlurfgeräuschen durch lähmende Nebel. Dann bratzknüppelt die Doom-Metal-Hoffnung Wolves In The Throne Room im Dunst von Räucherstäbchen und Kerzenschein wie Sau – eine Malmung postapokalyptischer Gitarren und einem Wunderknaben am Schlagzeug, dessen Irrsinnsgeklöppel nicht nur die Headbanger begeistert. Anschließend flutet das Brachial-Ensemble Shit & Shine den Saal mit harschem Elektro-Noise und lässt dazu von dreizehn Schlagzeugern einen rumpeligen Beat durchhämmern, bis sich alles zu einem orgiastischen Brei verdichtet. Da ist niemand mehr fähig etwas zurückzuweisen. Alles ist auf das Schlucken ausgerichtet. Und gerade hier, in der Ausschaltung des Verstandes, sind sich überwältigender Krach und einlullendes Gesäusel auf einmal sehr nahe – und das an sich Tolle gerät in Gefahr.

Es muss nicht alles gelingen, aber was könnte in Zeiten der Reizüberflutung dringlicher und spannender sein als ein Festival, das sein Publikum durch sämtliche Tiefen – und Untiefen – des musikalischen Daseins zwischen Klangkunst und Feierabend-Bonanza führt? Im Club Transmediale ist alles erlaubt, was jenseits der Fesseln des vermeintlich guten Geschmacks, seiner Stagnation und festgesetzten Struktur möglich ist.

Niemand muss sich wundern, wenn die Musik, die dabei entsteht, mehr mit Dampframmen und Presslufthämmer gemein hat, als mit Rosenzucht und Butterblümchen. Schließlich wanken seit jeher die Mauern der Stadt, wenn der Klang der Musik sich ändert.

Noch bis 2. 2., Infos unter www.clubtransmediale.de

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