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Herbert von Karajan: Der letzte Unbedingte

Schönheitsfanatiker, Jetsetter, Egomane: Heute vor 100 Jahren wurde Herbert von Karajan geboren.

Es ist ja nicht so, dass Herbert von Karajan der Nachwelt nichts Denkmalträchtiges oder -fähiges hinterlassen hätte. Man konnte jedenfalls unerhört viel lesen, hören und schauen in den vergangenen Monaten, Wochen, Tagen – und hat es getan. Erst vorsichtig, widerwillig, dann mit wachsendem Hunger. Hat sein antifurtwänglerisches Beethoven-Bild aus den Fünfzigerjahren mit dem kalorienreichen „Blubb“ der späten Siebziger verglichen und die berüchtigte Legge-Ästhetik (EMI) mit der eines John Cultshaw (Decca), durfte wissenschaftliche Symposien besuchen und sein ergreifend schlichtes Grab in Anif, ist vor der „Bohème“ mit Pavarotti in die Knie gegangen und hat die Schwarzkopf im „Rosenkavalier“ halb gescheut, halb bewundert, ist durch die Berliner Philharmonie gewandert, auf der Suche nach Überbleibseln, Spuren, war in Aachen und in Wien und hat doch immer wieder die astronomischen, ganz und gar selbstverständlichen und lausbubenhaft-frechen Ausmaße dieses imperialistischen Egos bestaunt. „Wenn man etwas ganz fest will“, dessen war Herbert von Karajan sich sicher, „dann gelingt das auch.“

Er wollte ganz fest ganz viel.

Leichter indes ist es nicht geworden, aus all dem mal eben eine flotte Summe zu ziehen und auf den Begriff zu bringen, worin heute wohl die Bedeutung jenes erfolgreichsten Dirigenten seit 1945 liegt. Im Gegenteil. Je tiefer man – leider ohne ihn selber je live gehört zu haben – in Karajans Imperium vordringt, desto hartnäckiger entzieht er sich. Ein rasant Vergessener, ein unter der Glasglocke seiner Allgegenwärtigkeit meisterlich vor sich hin Säuernder, der nun noch einmal mediengerecht gemolken wird? Der letzte Unbedingte unter den „Luftzerteilern“ nach Furtwängler, nach Toscanini und lange vor den Rattles, Barenboims, Gielens, Abbados und Thielemanns der Jetztzeit? Ein Positivist, ein panischer Schönheitsfanatiker, auf dessen Überzeugungen unser gesamtes postmodernes Musikverständnis fußt? Und, am Ende: der Einzige unter der Sonne, der Kunst und Technik, Markt und Musik unter einen Hut brachte – und zwar so, dass sie einander beständig beflügelten, ja beglaubigten?

Der Mann (die Frau) auf der Straße kennt seinen (ihren) Karajan zunächst und in erster Linie natürlich als Jetsetter, als eine Art Gunter Sachs der klassischen Musik: Saint Tropez, St. Moritz, Salzburg, Chalets, Privatflugzeuge, Segeljachten, rassige Autos, schöne Frauen. Von dieser Sorte Lichtgestalt – und das wäre jenseits des Klischees ein erstes Indiz – hat die Klassik nicht allzu viele zu bieten. Die Callas, gewiss, Lenny Bernstein, den programmatisch schwitzenden Antipoden, aber das wär’s auch schon. Der Rest des Lichtermeers gehört spätestens mit den Sechzigerjahren dem Kino, der Popmusik und der Politik. Jackie Kennedy, Brigitte Bardot, Elvis, die Monroe, Oscar Werner vielleicht. Sonderlich weit führt diese Schiene bei Karajan ohnehin nicht. Denn er war nun einmal kein „Gesellschaftstiger“, und wenn dies eine gewiefte Gesellschaftstigerin wie Helga Rabl-Stadler bekundet, die amtierende Präsidentin der Salzburger Festspiele, dann muss es für alle Zeiten stimmen.

Denkwürdige Ambivalenz: Karajan präsentiert bereitwillig die Außenhaut für derlei Zuschreibungen – und verschwindet im selben Atemzug dahinter. Mehr noch (und das unterscheidet ihn von den oben angeführten Diven und „Göttlichen“): Er präpariert jene Außenhaut mit höchster Akribie selbst, poliert, justiert, expandiert, verfeinert – lebenslang. Nie zuvor hat ein darstellender Künstler oder Musiker Zelluloid, Leinwand und Mattscheibe derart gezielt und durchaus auch praktisch, ja einfältig für sich zu nutzen gewusst: Als Schutzschild gegen jedwede Zudringlichkeit, als perfektes Ablenkungsmanöver, aber auch – und diese Schnittstelle von Leben und Kunst wirft ein zweites Schlaglicht auf die Physiognomie des Herrn von K. – als Tragfläche, Spielwiese, Bühne einer gleichsam idealtypischen Musikausübung. Und eines ästhetischen Resultats, wie es sich bestenfalls in Karajans Kopf abspielt und in keinem Konzertsaal oder Opernhaus der Welt je zu erleben war.

Das Hohelied der Zweidimensionalität als eine Art auf dem Kopf balancierendes Höhlengleichnis: Wie vermessen sind wir Musiker und Menschen, fragt Karajan, dass wir uns dem Lichtstrahl der Erkenntnis stellen? Sorgen wir uns doch lieber um verlässliche (Ab-)Bilder!

An der Augenblicksraumkunst Musik, ihren Unzulänglichkeiten und Nöten mag er zeitlebens gelitten haben. Und damit, überraschend oder nicht: An sich selbst, zumindest an demjenigen, der hinter der Leinwand respektive vor der Kamera kauerte und partout nicht entdeckt werden wollte. Als Salzburger Bub soll der kleine Heribert Ritter von Karajan gestottert haben. Und die Zeit zwischen 1944 und 1947, die er in Italien und St. Anton verbrachte, in banger Erwartung seiner Entnazifizierung, wird ebenfalls kaum dazu angetan gewesen sein, in ihm einen hemmungslosen Exhibitionismus aufkeimen zu lassen.

Schaut man in Karajans eisblaue Augen mit dem sanften Silberblick – in Robert Dornhelms schönem Film für das ZDF, in Georg Wübbolts Bestandsaufnahme des „Fernsehstars“ (auf Arte) –, lauscht man seiner knarrenden, schnarrenden Stimme, so meint man einem Menschen zu begegnen, der sich recht eigentlich nicht mitteilen will. Schon gar nicht mit Worten, im Gespräch. Und also habe sich sein ganzes Selbst und Sagen in die Musik ergossen, genauer: In eine Klangmanie, ein Legato, das sich nicht selten wie ein Film (!), eine Versiegelung über die Partitur legt und welches es mit steigendem Renommee, mit wachsendem ökonomischen Einfluss offenbar immer vordringlicher zu realisieren gilt?

Karajans späte Bach-Aufnahmen etwa legen dafür grauslige, pastose Zeugnisse ab, zumindest für heutige Ohren (Martin Elste spricht hier von der „Befreiung des Instrumentalen aus dem Menschlichen“) – ebenso wie seine stets zaghaft bleibenden Annäherungsversuche an die Zweite Wiener Schule eher dem Sensualismus eines Ravel oder Richard Strauss huldigen, als tatsächlich in Bausteinen, Strukturen denken, um diese dann mit Farben, mit Leben zu füllen.

Eine Ästhetik wird appliziert: Wo sie nicht passt, wo Karajan sich für die Rhetorik, das spezifische Vokabular einer Musik nicht interessiert oder wo es vielmehr darum geht, Konflikte auszureizen, Reibungen, Antagonistisches, da wird es bei ihm oft furchtbar langweilig. Wo sie jedoch passt, weil Schönheit auch subversiv sein kann und alles Dissonante, „Hässliche“ im musikalischen Erzählfluss gleichsam geborgen ist, bei Wagner, Bruckner, Brahms, im deutschen Fach also, bei Verdi und Johann Strauß, den französischen Impressionisten, bei Tschaikowsky, Strawinsky, da kann man sich bis heute regelrecht wund hören: An der Geschmeidigkeit und Eleganz, mit der er selbst vor schwersten Geschützen nicht zurückschreckt, an der Verlässlichkeit seiner Disposition, der Großkunst und Aura seiner Übergänge, der Vitalisierung des Unspektakulären, dem ganzen pulsierenden Wissen. Und im Übrigen gilt wohl, was der inständige Karajan-Bewunderer Carlos Kleiber gesagt hat: Man könne nur beurteilen, wie der Dirigent K. ein bestimmtes Stück aufführt, nicht den Dirigenten K. allgemein.

Insofern ist die Vorstellung, die Musik sei die eigentliche Sprache des Schüchterlings Karajan gewesen, entschieden zu romantisch. Die Musikwissenschaft führt ihn, frei nach Hermann Danuser und so sie sich methodisch überhaupt an eine Geschichte der musikalischen Interpretation heranwagt, in der Nachfolge Toscaninis als „neusachlichen“ Typ. Furtwängler indes gilt als Inkarnation des „Espressivo“- Dirigenten, während Nikolaus Harnoncourt & Co. kurzerhand für den „historischen Modus“ stehen. So erratisch dieser Dreisprung, so kraus sein Gebrauch: Befindet sich Karajan nun auf dem Weg vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit oder umgekehrt, ist er modern, postmodern oder völlig unmodern, und überhaupt: Was wäre gewesen, wenn er über 1989 hinaus im Safte seiner Kraft und schmerzfrei noch zehn, zwanzig Jahre gelebt hätte?

Hypothetische Fragen. Sie werden sich erst dann besser lösen und sortieren, wenn wir bekennen: Ist uns Herbert von Karajan ein historisches Phänomen oder ein mediales, ewig gegenwärtiges? Erachten wir es als Verlust, ihn durch seine luxuriösen Spiegelkabinette irrlichtern zu sehen, oder begreifen wir sein Verschwinden, sein Sich-Verflüchtigen als Chance? Musik, davon war der Zeitgenosse und meisterliche Distanzhalter Karajan überzeugt, ist nicht nur vergänglich. Wenn man dem Rechnung trägt, ästhetisch, technisch, dann manifestiert sie sich auch. Zum Beispiel in derzeit 690 verfügbaren Aufnahmen.

Es ist in Mode gekommen, den jungen wilden Karajan gegen den alten, abgeklärten zu verteidigen. Mit ersterem, der sich kämpferisch gegen Furtwänglers Pathos und dessen humanistisches Zwerchfellflattern wendet, kommt das 21. Jahrhundert gut zurecht. Den anderen, zwanghaft in seine Manierismen verstrickten Narziss K., den Chirurgen des Wohllauts lehnt es ab.

Vor allem seine allseits bespöttelten Filme der Beethoven-Symphonien haben dafür gesorgt, Karajans Bild als „Napoleon der Musik“, als Olympier und Patriarch zu zementieren. Der Maestrissimo im kleidsamen Seitenlicht, die Berliner Philharmoniker täppisch im Dunkeln. Seine Hände wie aus Alabaster gemeißelt und in Großaufnahme, der einzelne Musiker auf den nackten Körper seines Instruments reduziert. Gibt es eine sprechendere Hackordnung, ein demütigenderes „Ich da oben, ihr hier unten“?

Der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke hat mehrfach und in klugen Analysen darauf hingewiesen, dass Karajan weit eher ein „Integrator“ gewesen sei als ein Vergewaltiger oder gnadenloser Tyrann. Was für ihn zählte, war die Synthese, das gleichsam „reine“, von keinerlei Herstellungsrückständen getrübte musikalische Ergebnis. Das mag ketzerisch klingen und dem heutigen Konzert- oder Operngänger, der oft genug mit nichts anderem konfrontiert ist als mit der Machartlichkeit der Musik, dem Gerippe ihrer Bedingungen, schier unerträglich vorkommen. Unerträglich weltfern. Ein winziger Funke nur von diesem großen prometheischen Feuer aber würde uns zweifellos wärmen.

Christine Lemke-Matwey

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