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Interview: "Ich singe nie auf Partys"

Anna Netrebko über russische Pionierlieder, die Energie von Cecilia Bartoli und nächtliche Serenaden

Daniel Barenboims Privatgarderobe in der Staatsoper Unter den Linden. Ein bescheidener Raum mit Pseudo-Rokoko-Stühlen, einem Ohrensessel, einer knarrenden Ledercouch und einem Klavier. Auf dem Kühlschrank liegt ein „Bitte nicht stören“- Schild. Anna Netrebko betritt das Zimmer und reißt das Fenster auf: „Dieser Zigarrenrauch bringt mich um!“ Ihre schwarzen Lackpumps sind Ehrfurcht erregend.

Frau Netrebko, Millionen Menschen in aller Welt haben Ihre Opernaufnahmen im Wohnzimmerschrank. Erinnern Sie sich noch an die Lieder, die Ihnen Ihre Mutter vorgesungen hat?

Oh ja, sie hat viele Lieder gesungen, die während des Krieges geschrieben wurden. Meistens ging es darin um Liebe und die Frauen, die auf die Rückkehr der Soldaten warten – sehr romantisch. Es war viel Filmmusik aus den 40ern dabei.

Also keine Kinderlieder.

Oh doch, wir hatten viele Musikfilme in Russland, Zeichentrickfilme, die habe ich meistens gesehen. Die Texte sind süß und unschuldig. Manchmal naiv – andernfalls auch sehr heroisch. Wir sind in einer anderen Zeit aufgewachsen. Wir mussten die ganze Zeit Heldenbücher lesen.

Wissenschaftler sagen, Singen sei gut für die Intelligenz. Merken Sie das?

Ich glaube schon … Nein, im Ernst, Singen ist ein sehr gesunder Prozess. Aber natürlich unterscheidet sich das Opernsingen vom alltäglichen Singen komplett. Ich würde nicht sagen, dass Opernsingen etwas Natürliches ist. Man braucht viele Jahre, um es zu lernen, und von 20 Leuten verstehen nur drei oder vier, wie es geht. Falls man nicht zu denen gehört, sollte man es besser gleich lassen. Sonst ist es nur Leiden.

Forscher sagen, mit dem Singen steigt die Gedächtnisleistung – zum Beispiel bei Sprachen.

Ich habe mir schon immer sehr schnell die Worte und Melodien zu einem Lied gemerkt. Tatjanas Briefszene aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“ etwa habe ich in einer Nacht gelernt. Und das ist lang.

Gibt es Momente, in denen Sie bloß zum Vergnügen singen? Rolando Villazón hat uns erzählt, dass er unter der Dusche singt und ihn das befreit.

Rolando ist anders, er kann von morgens bis abends singen. Ich habe genug Gesang in meinem Leben. Es macht mir großen Spaß, für mich und meine Zuschauer zu singen, aber wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Ich singe nie auf Partys.

Wann haben Sie zuletzt ein Geburtstagsständchen gebracht?

Das mache ich schon mit Freunden und der normalen Stimme.

Hat schon einmal jemand nachts unter Ihrem Balkon gesungen?

Einmal hat ein Mann tatsächlich für mich eine Serenade gebracht.

Und, hatte er Erfolg?

Natürlich ... ich habe mich eine Weile mit ihm unterhalten.

Welchen Klingelton hat Ihr Handy?

Die Titelmelodie von „Sex and the City“. Eine Freundin hat es mir draufgespielt. Um ehrlich zu sein, habe ich gar keine Ahnung, wie man das macht. Ich kenne am Telefon nur den roten und den grünen Knopf.

Dann haben Sie auch keinen iPod.

Doch, in meiner New Yorker Wohnung, aber ich habe keine Ahnung, wie ich all die Möglichkeiten nutzen kann.

In Deutschland gibt es die Tradition, dass sich auch Familien, die sonst nie einen Ton herausbringen, zu Weihnachten unterm Tannenbaum versammeln und singen. So schief es auch klingen mag.

Russen hingegen singen oft, wenn ein geselliges Abendessen vorbei ist. Wenn alle ein bisschen betrunken und fröhlich werden, verspüren sie den Drang, zu singen. Lange, traurige Lieder. Sehr sentimental.

Wenn Deutsche zusammen singen, sind es Jubelsongs, Spottsongs, Wanderlieder …

Die Russen mögen es, traurig zu sein. Diese Traurigkeit gibt ihnen eine gewisse Befriedigung.

Vermissen Sie das, wenn Sie nicht in Russland sind?

Ich bin inzwischen ganz anders, weil ich so viel Zeit außerhalb Russlands verbracht habe. Viele meiner Freunde sind keine Russen, ihr Humor ist anders und ich habe mich etwas in ihre Richtung bewegt. Wenn ich jetzt meine Freunde in Russland besuche, versuche ich, möglichst viel positive Energie mitzubringen.

Das klingt fast amerikanisch.

Allerdings, und es funktioniert.

In Amerika müssen Schüler jeden Tag vor Schulbeginn die Nationalhymne singen.

Ehrlich? Jeden Morgen? Wir haben auch eine Menge komischer Dinge, aber das nicht. Wir haben unter der Flagge gesungen, im Pioniercamp, wir haben stramm gestanden und salutiert, wir hatten rote Halsbänder, und wir waren allzeit bereit. Aber es war Spaß. Daran gab es nichts Schlechtes, nichts Aggressives. Wir wussten nicht, was in der Stalinzeit geschehen war, wir wussten nur, dass in der Zukunft etwas sehr Schönes liegen würde. Alle würden glücklich sein, ohne Unterschied zwischen Arm und Reich. Die Idee jedenfalls war großartig. Die Lieder auch. Den Rest kennt man.

Deutsche fürchten sich ein bisschen davor, als staatliche Erziehung zusammen Lieder zu singen. Beim letzten Mal hat das zu nichts Gutem geführt.

Ehrlich gesagt, haben wir ziemlich viele Lieder gegen euch Deutsche gesungen. Aber nach 1986/88 war dieses Gefühl der Angst plötzlich verschwunden. Wir waren ja Kinder und hatten Angst, ihr würdet rüberkommen und uns erobern.

Und wir hatten Angst vor Euch. Das war das Gleichgewicht des Kalten Krieges.

1990 war ich mit dem Chor des St. Petersburger Konservatoriums auf einer Konzertreise in Deutschland. Wir haben in Kirchen russische Sakralmusik gesungen, unglaublich laut, eben mit Opernstimmen. Die Leute waren schockiert, das hatten sie noch nie gehört. Ein großer Erfolg. Wir haben in Familien gelebt und konnten ihre Freundlichkeit kaum fassen. Damals hatten wir in Russland nichts zu essen, und aus Deutschland kamen immer wieder Care-Pakete.

Eine Ihrer berühmtesten Kolleginnen ist Cecilia Bartoli. Sie hat mal verraten, was sie gerne von Ihnen hätte.

Was denn?

Ihre Beine.

Oh ja, das stimmt, das habe ich mal gehört. Sie ist großartig. Ich hätte gerne ihre ungeheure Energie. Aber eigentlich denke ich, ich bleibe lieber ich mit meinen Beinen.

Rolando Villazón hat kürzlich gesagt, er sei nicht nur Sänger, sondern auch ein Produkt. Fühlen Sie sich auch manchmal so?

Manchmal? (lacht) Auf der anderen Seite muss man sagen, dass es ohne die Medien auch gar nicht möglich wäre, heute so einen Ruhm zu erreichen. Wenn Sie jedoch nur ein Produkt wären, ohne eigenes Charisma und Persönlichkeit, wäre das nach ein paar Tagen wieder verpufft. Man muss sehr hart arbeiten, um die Zuschauer zu binden.

Wenn sie eine Aufführungsserie in einer Stadt singen wie jetzt die sieben „Manon“-Abende an der Lindenoper, fliegen Sie dann zwischendrin nach Hause oder bleiben Sie in der Stadt?

Ich versuche zu bleiben, weil einen der Flug zu sehr erschöpft. Meine Rollen sind lang, ich muss in Form bleiben. Ich habe viele Verpflichtungen. Letzten Freitag war der erste Tag, an dem ich selbst etwas machen konnte. Ich habe die Nofretete gesehen und war sehr beeindruckt.

Vielen macht es etwas aus, dass sie nicht zu Hause sein können.

Wenn Sie lieber zu Hause sind, dürfen Sie nicht Opernsänger werden.

Das Gespräch führten Deike Diening und Frederik Hanssen.

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