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Klassik: Bitte stellen Sie die Partituren auf Sommerzeit um

Zusammengedacht: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker beenden ihren großen Beethoven-Webern-Zyklus.

Wenn man sich der Berliner Philharmonie vom Tiergarten aus nähert, sieht man sie: Hans Uhlmanns Skulptur, die er 1963 auf die Spitze von Scharouns zeltartiger Dachkonstruktion gesetzt hat. Zwei enorme Schwingen, weit ausgebreitet, bereit zum Abflug gen Osten. Damals ein leicht durchschaubares Symbol. Heute kann man die Kunst am Bau auch als Anspielung auf den Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker lesen. Simon Rattle ist ein Luftwesen, immer auf dem Sprung, einer, der die Fesseln des Irdischen abwerfen will, magisch angezogen von der Sonne, Daidalos und Ikaros zugleich. Denn so viele Höhenflüge er dem Berliner Publikum seit 2002 auch beschert hat – die Art, wie sich dieser Abenteurer der Musik immer in Gefahr begibt, schließt Abstürze stets mit ein.

Mit dem Werk, das Karajan einst zur Eröffnung der Philharmonie ausgewählt hatte, beschlossen Rattle und seine Philharmoniker am Sonnabend ihren thematischen Schwerpunkt dieser Saison. Beethovens „Neunte“ krönte eine fünfteilige Konzertserie, die als Doppelporträt angelegt war: Dem Vollender der Sinfonie stand dabei der Dodekaphonie-Radikalist Anton Webern gegenüber. Eine merkwürdige Wahl, eint die beiden Komponisten doch nichts als die Tatsache, dass sie ihre wichtigste Schaffenszeit in Wien verbracht haben. Beethovens Sinfonien sind kraftvolle, prachtvolle Werke, in denen das Prinzip der motivisch-thematischen Arbeit auf die Spitze getrieben wird, in denen sich („da-da-da-daaa“) aus einem rhythmischen Partikel eine atemberaubend komplexe Klangarchitektur entwickeln kann. Webern dagegen zieht sich in seiner Musik ganz in sich selber zurück, schreibt vergeistigte Miniaturen, reduziert aufs Maximum.

Doch vielleicht ging es Rattle hier gar nicht um einen Vergleich der ersten, also klassischen, und zweiten, also zwölftönigen „Wiener Schule“. Genau so wenig wie um die Idee des Zyklischen: Zwei Konzerte fanden im Februar statt, drei jetzt im April, die Webern-Werkschau war innerhalb der Programme organisatorisch-pragmatisch, nicht chronologisch geordnet, die Beethoven-Sinfonien durchaus auch mit Blick auf die jeweilige Gesamtlänge des Abends kombiniert. Rattle ist eben kein Zusammendenker, Spielzeit-Motti wie sein Vorgänger Abbado lehnt er ab. Die Großtat des Projekts bestand mithin darin, das Publikum, das wegen Beethoven gekommen war, zur Auseinandersetzung mit einem ungeliebten Klassiker der Moderne zu zwingen. Auch zu verführen?

Weberns Stücke erfordern erhebliche Probenanstrengungen, und so war es nur allzu verständlich, wenn Rattle am vergangenen Montag erklärte, die Akademisten des Orchesters und er hätten so lange an den „Fünf Stücken für Orchester“ Opus 10 gearbeitet, dass sie sie nun gleich doppelt aufführen wollten. So kunstvoll-konzentriert gespielt hätte man diese spinnenwebfeinen Gespinste, die gegen den anschwellenden Lärm der industrialisierten Welt mit extremen Pianissimoschattierungen rebellieren, glatt noch ein weiteres Mal hätte hören mögen. Es wären dann allerdings wohl Hustenreizunterdrückungsopfer zu beklagen gewesen.

Während Weber-Interpreten sich der uneingeschränkten Hochachtung der Kritik stets sicher sein können, lösten Rattles Beethoven-Deutungen bei den Rezensenten zunächst Befremden aus: Zu distanziert, zu vorhersehbar angeschärft und pathosreduziert, zu überdidaktisch erklärt wirkte da vieles.

Mit den beiden letzten Abenden aber gelingt dem Briten dann doch noch ein fesselndes Finale. Obwohl Beethoven parallel an seiner B-Dur und seiner c-Moll Sinfonie gearbeitet hat, ordnet Rattle die Stücke verschiedenen Entwicklungsphasen zu, dirigiert die Vierte voller Fragezeichen, als ein Werk, bei dem sich der Hörer nie zuhause fühlen kann, weil der Komponist selber noch nicht angekommen ist, während die Fünfte zur Jubelfeier des Durchbruchs wird, vom ersten bis zum letzten Takt durchpulst von gedanklicher Souveränität und mitreißender Kraft, ein einziges Ausrufezeichen. Und die Philharmoniker folgen ihrem Chef mit einer stilistischen Wandlungsfähigkeit, die man nur sensationell nennen kann.

Ebenso in der Neunten, die Rattle dann am Sonnabend konsequent nach vorne denkt, in Richtung Romantik, dem Orchester einen üppigen, volltönenden, „deutschen“ Klang entlockt, als wäre es Brahms' „Nullte“. Der Weg des Sinfonien-Titanen, ein großer, logisch sich entwickelnder Spannungsbogen? Quatsch! Schafft ein, zwei viele Beethovens!

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