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Dudamel

© AFP

Klassik: Die wilden Jungen

Eigentlich ist es völlig müßig, einen Auftritt des Simón Bolívar Jugendorchesters mit den Maßstäben einer klassischen Musikkritik messen zu wollen. In der restlos ausverkauften Philharmonie haben sich die Fans des Nachwuchsensembles versammelt, im festen Willen, eine Fiesta zu feiern.

Das ganze Projekt ist aber auch herzerwärmend: Seit 1975 sorgt in Venezuela „el sistema“ dafür, dass alle Kinder des Landes kostenlos Musik lernen können. 240 000 Jugendliche spielen dort in 200 Ensembles, die besten von ihnen touren als Botschafter des einmaligen Education-Programms um den Globus und lösen überall Begeisterungsstürme aus, so auch in der Philharmonie 2000, 2002, 2005 – und am Dienstag: Bei der ersten Gelegenheit springen die Zuhörer auf, jubeln, schwenken Fahnen. Am Schluss dann ein Aufschrei aus Dutzenden Kehlen, der Saal wird zum Hexenkessel, vokale La-Olas fegen über die Ränge hinweg, wenn die Bläsersolisten aufstehen, euphorische Pfiffe gellen dazwischen.

Und die Fans bekommen ihre Zugaben, Südamerikanisches natürlich. Die fast 140 Musikerinnen und Musiker rufen „Mambo!“, lassen ihre Instrumente kreiseln, tanzen auf der Bühne. Leider spielen sie allerdings auch die „seriösen“ Werke des Programms mit derselben naiven Lebensfreude und der Lautstärke einer Sambakapelle. Und das macht den Abend – rein musikalisch-interpretatorisch betrachtet – dann doch zum Ärgernis.

Technisch präsentieren sich die Musiker auf beachtlichem Niveau, bei einem Jugendorchestertreffen wie „Young Euro Classic“ wären sie gut aufgehoben. Doch die Venezolaner lassen sich als Stars feiern, vor allem auch dank ihres Dirigenten Gustavo Dudamel, dem aktuellen Darling des Klassikbusiness, der mit seinen 27 Jahren schon Chef der Göteborger Symphoniker sowie designierter musical director in Los Angeles ist. Zweifellos ist Dudamel hochbegabt, er dirigiert auswendig, seine Bewegungen sind geschmeidig und organisch, die agogischen Akzentsetzungen nachvollziehbar. Doch es gelingt ihm nicht, die explosive Energie der orchestralen Massen zu kanalisieren, für seine Zwecke zu nutzen. Strawinskys „Sacre du Printemps“ verliert sofort die Spannung, wenn die Musiker nicht loskrachen können. Tschaikowskys 5. Sinfonie hat schöne Stellen, ein anrührendes Thema im Eröffnungssatz, ein beseeltes Hornsolo im Andante, doch über weite Strecken braust die Partitur im Fortissimo dahin, ohne Geheimnis, ohne Wärme. Die zur Schau gestellte Emotion wirkt in ihrem ganzen Bühnendonner oberflächlich, aufgesetzt und darum, pardon, so ehrlich wie ein vorgetäuschter Orgasmus. Frederik Hanssen

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