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Simon Rattle

© dpa

Klassik: Falscher Friede

Saisonbeginn bei den Berliner Philharmonikern: Simon Rattle dirigiert Brahms und Schostakowitsch.

So ein erster Arbeitstag nach den großen Ferien ist keine leichte Übung. Die einen haben das Gefühl, sie seien gar nicht weg gewesen aus der Stadt und aus der Musik, die anderen waren’s zu lang. Und alles fühlt sich ungelenk an, fehl am Platz, regelrecht ver-rückt. Vielleicht frönt Simon Rattle deshalb an diesem philharmonischen Saisoneröffnungsabend seiner Vorliebe ganz besonders ausgiebig und hingebungsvoll, sich während des Beifalls bei einzelnen Musikern persönlich zu bedanken. Und zwar nicht vom Pult aus, mit huldvollem Kopfnicken oder lässigem Taktstockwippen, sondern indem er sich verschlungene Wege durchs Orchester bahnt, über Stock und Stein, um einem Radek Baborak oder einem Christoph Hartmann oder gleich der ganzen Bassgruppe die Hände zu schütteln.

Showeinlage oder wahre Wiedersehensfreude? Das großenteils geladene VIP-Publikum dieses einmaligen Sonderkonzerts in der Philharmonie macht sich da keinen Kopf, warum auch. Und während Philharmoniker-Intendantin Pamela Rosenberg dem neben ihr sitzenden Josef Ackermann – die Deutsche Bank ist Hauptsponsor der Philharmoniker – demonstrierte, wie professionelles Musikhören geht (auf der Stuhlkante sitzend, jedes Aufbegehren in Brahms’ Dritter ebenso einsaugend wie die Salven roher Klanggewalt in Schostakowitschs Zehnter), nahm dieser das Geschehen eher stoisch hin. Passiere unserer Welt nichts Schlimmeres, mag er sich mit vielen im Saal gedacht haben, als dass ein Komponist (Brahms) nicht mehr aufhören kann zu singen und diese brennende Lust trotzdem als klassische Symphonie begreift, während ein anderer (Schostakowitsch) sich 1953, im Todesjahr Stalins, das Leid seines ganzen Volkes von der Seele schreit, in schwärzestem e-Moll. Mehr äußerliche Regung war denn auch dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit in der Reihe dahinter kaum anzumerken.

Das Programm indes ließ die Herzen nicht eben leicht überfließen. Einerseits mag Brahms’ F-Dur-Symphonie dem heutigen Hörer durchaus angenehm sein, weil sie in ihrem lyrischen Pathos, wie gesagt, fast naiv daherkommt, unbescholten, und weil das Motiv aus den Tönen f-as-f, das alle vier Sätze melodisch umtreibt, immer neue Blüten hervorbringt – und dies alles in der gebotenen Kürze von einer halben Stunde! Andererseits aber tut man sich auch schwer mit dem scheinbar ziellosen Mäandern der Partitur zwischen Leidenschaftlichkeit und Melancholie, Innenschau und virilen Poltergeistern. Als habe sich der 50-Jährige nicht recht entscheiden können oder wollen, noch übervoll der alten Sehnsüchte zu sein und also noch jung oder doch schon in den Jahren und „frei, aber einsam“ (so Brahms’ Lebensmotto).

Wiewohl Simon Rattle die Altweibersommerfäden, die auch über dieser Symphonie liegen, erwartungsgemäß nicht sonderlich interessieren („altfränkisch“, ätzte einst Hugo Wolf, während Clara Schumann den „Zauber des Waldlebens“ pries), wirkte der Philharmoniker-Chef bei Brahms so entspannt wie lange nicht mehr. Der erste Satz, Allegro con brio, ein inbrünstiges Wühlen im symphonischen Muskelfleisch, wenige Widerhaken nur, hier eine winzige Akzentverschiebung, da ein kleines allzu künsteliges Rubato – und mittendrin das Hornsolo des fulminanten Radek Baborak (der wie Buddha hoch über allen thronte), das dem Komponisten im Himmel Freudentränen in die Augen getrieben hätte.

Den dritten Satz, c-Moll, nimmt Rattle eher leicht und gespinstig und trotzdem sehr schön à la Tschaikowsky. Innigkeit muss nicht klebrig sein, so lernt, so fühlt man. Im vierten allerdings, der klassisch die Summe ziehen will und muss, fragt man sich, wem oder was die ganze Aufregung eigentlich gebührt, und vielleicht haben sich die Philharmoniker das mit ernster Miene auch gefragt. Denn bei aller Dramatik, bei aller Genialität vor allem, mit der Brahms hier Motive und Themen, Kopfsatz und Finale kontrapunktisch versöhnt, als gäbe es nichts Unlösbares auf der Welt – Rattle traut dem Frieden nicht. Prompt fehlt dem Orchestertutti die satte Dichte des Beginns, erscheinen die Spitzentöne im Fortissimo kurzatmig und gedeckelt und alles andere als nach oben offen. Musik allein, sagt dieses Finale, kann die Welt nicht retten, und vielleicht gibt Brahms Rattles Lesart mit seiner sich im doppelten Piano aushauchenden Coda ja sogar recht.

Nach dieser Erfahrung schienen die Philharmoniker bei Schostakowitsch besser aufgehoben und schlechter zugleich. Herrlich gruselig, wie sich aus der Totenstarre des Moderato-Beginns erste Stahlgewitter schälen, die alte Brutalität gleichsam maschinesk Gestalt annimmt; glänzend gespielt auch die wilde Hatz des zweiten Satzes. Im dritten jedoch, der vielsagend und nichts mehr meinend Mahlerschen Weltschmerz antizipiert, mit klagenden Soli und rasselnden Spielmannszügen, büßt Rattle den Überblick ein. Als schiebe sich die Botschaftlichkeit der Partitur vor alle Musik, zerfällt auch das abschließende Andante in lauter kraftstrotzende, aber zerquälte Gesten.

Eine Abrechnung mit Stalin? Eine Darstellung menschlicher Gefühle? Schwer, nach solchen Tönen zu klatschen. Das Publikum überwindet sich schließlich. Ist doch Saisonbeginn.

Christine Lemke-Matwey

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