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Konzert: Blues in den Knochen

David Murray stellt in Berlin sein preisgekröntes Jazz-Album über Rassismus in Amerika vor.

Geheiligte Erde. Für sein Ende Oktober erschienenes Album „Sacred Ground“ (Sunny Moon), hat David Murray am Samstag den Preis der deutschen Schallplattenkritik erhalten. Es basiert auf der Dokumentation „Banished“ des afro-amerikanischen Filmemachers Marco Williams und handelt von einem Stück amerikanischer Wirklichkeit: die Geschichte der Vertreibung Tausender schwarzer Familien aus dem Süden der USA zwischen 1890 und 1930, aus Orten in Missouri und Arkansas, wo auch heute noch kein einziger Afro-Amerikaner lebt.

Mit seinem Album kehrt Murray nach langer Zeit wieder zurück zu den Wurzeln des Jazz. Aufrührende, aufwühlende Klänge. Verstörend, schmerzhaft, die Geburt des Blues aus dem stummen Schrei des Leids.

Es ist spät an diesem Abend und die Bühne der Maschinenhalle des ehemaligen Pumpwerks am Osthafen ist in sanftes Licht getaucht. Der Pianist Lafayette Gilchrist kommt mit einem großen Buch auf die Bühne, darin: hunderte Seiten handbeschriebenes Notenpapier. Auf dem Umschlag steht mit schwarzem Filzstift „The David Murray Power Quartet Book“. Es ist ein Vermächtnis des großen Pianisten John Hicks, der dreißig Jahre mit Murray spielte und vergangenes Jahr gestorben ist. Gilchrist legt das Buch in das Klavier. Ein Ritual, als wäre Hicks nun auch auf der Bühne.

Die Musiker kommen in dunklen Anzügen. David Murray eröffnet das Konzert mit „Waltz Again“, und es ist wie im Gottesdienst, eine Reise zurück. Eine Komposition, die er seinem Vater gewidmet hat. Bassist Jaribu Shahid, der mit seinen fast bis zum Boden reichenden Rastalocken unendliche Ruhe ausstrahlt, nickt ihm zu. Auf dem Notenständer vor ihm hat er seinen Bogen abgelegt, den er nur für ein Stück braucht, für „Banished“, das mit einem gedehnten Basssolo beginnt. Dass nach der Vertreibung der Schwarzen ihre Friedhöfe zurückblieben, die Knochen der Vorfahren, war Grundlage für das Stück „Sacred Ground“. Nur hier spielt Murray Bassklarinette, dunkle, erdige Töne. Er sagt über Williams Dokumentation, sie handele vom „Rassismus in Amerika“. Er spricht im Präsens.

„Sacred Ground“ dehnt sich über zwanzig Minuten. Murray nimmt sich zurück. Er, der sich sonst in sein Instrument eingräbt, sich darin verliert und mit Überblasungen und Schreien eine erschütternde Klanggewalt produziert. Zuletzt spricht er von John Coltrane, der „die Spiritualität in den Jazz“ gebracht habe. In Anlehnung an ihn habe er ein Stück geschrieben, die „Murray Steps“. Es sind kleine Schritte. Hinaus aus hundertjähriger Unsichtbarkeit. Maxi Sickert

Maxi Sickert

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