zum Hauptinhalt
071122thalheimer

© Kai-Uwe Heinrich

Michael Thalheimer: Ein Korsett, das befreit

Michael Thalheimer setzt auf Musik: Im Deutschen Theater inszeniert er jetzt Schuberts "Winterreise".

Die „Winterreise“ beginnt mit einem Ende. „Gute Nacht“ heißt das erste der 24 Schubert-Lieder, und stockdunkel wird es auch in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Es ist eine beklemmende Schwärze, die sich über die Zuschauer legt, nur die fluoreszierenden Männchen über den Notausgängen werfen noch ein paar Sekunden lang die Erinnerung an ein Licht, an vergangene helle Stunden, in die Tiefe des Raumes. In die Dunkelheit hinein erklingen, gespielt vom Baseler Pianisten Jürg Henneberger, die wandernden Achtelnoten des ersten Liedes, während sich langsam aus der Dunkelheit die Konturen eines weißgekleideten Menschen herausschälen: Zerbrechlich und schutzlos steht der Tenor Daniel Kirch da in seiner Einsamkeit. Die ersten Worte, die er singt, sagen bereits alles aus über sein Verhältnis zur Welt: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Es ist der Auftakt zu einer Reise in die Klüfte der menschlichen Seele.

Und der Beginn einer Produktion zweier verwandter Seelen, die unbedingt zusammenarbeiten wollen. Daniel Kirch und sein Regisseur Michael Thalheimer sitzen nach der Probe in der Kantine des Deutschen Theaters. „Ich kenne kein anderes Werk, das so zutiefst verdichtet ist und dabei so viel übers Leben erzählt wie die Winterreise“, sagt Thalheimer. „Es ist atemberaubend.“ Sie hätten sich, so Kirch, dieser Seelenschau mit der größtmöglichen Ehrfurcht genähert. 2005 kreuzen sich ihre Wege zum ersten Mal. Daniel Kirch singt den Herzog von Mantua in Thalheimers Baseler „Rigoletto“-Inszenierung. Sie verstehen sich auf Anhieb, Thalheimer lernt Kirchs Kompromisslosigkeit und ungeheure Einlässlichkeit auf ein Werk schätzen, während Kirch mehr als Verständnis hat für Thalheimers radikalen Regieansatz: „Ich empfinde wie er. Ich habe einmal seine ,Emilia Galotti’ gesehen und sofort verstanden, worum es ihm geht“, schwärmt der 33-jährige Sänger. Aus einer fröhlichen Schnapsidee entsteht das Projekt, die „Winterreise“ auf die Bühne zu bringen. Für Theatergänger.

Doch die „Winterreise“ ist kein Stück, sondern ein Liederzyklus, der Liederzyklus schlechthin, Symbolwerk der deutschen musikalischen Romantik. Franz Schubert hat die Texte von Wilhelm Müller 1827, ein Jahr vor seinem Tod, vertont. Eine Geschichte, die man inszenieren kann, enthalten sie gleichwohl: Ein namenloser junger Mann verlässt die Stadt, nachdem ihn sein Mädchen nicht mehr liebt, und zieht ziellos hinaus in die Winterlandschaft. Während er Dörfer und Friedhöfe durchwandert, wird ihm seine Fremdheit zu den Menschen immer klarer. Aus Liebesverlust wird Todessehnsucht.

Es sind an sich schon sehr eindringliche Texte, doch erst mit Schuberts Vertonung gewinnen sie eine Tiefe, die sie zur Metapher des existenziellen Schmerzes und Scheiterns des Menschen überhaupt machen. Fast alle großen Sänger haben die „Winterreise“ interpretiert. Inszeniert haben sie nur wenige, darunter Christoph Marthaler in Zürich und Uwe Eric Laufenberg in Potsdam. Hans Steinbichler drehte 2006 einen „Winterreise“-Film mit Josef Bierbichler, der sich aber nur lose am Vorbild orientiert.

Jetzt also Thalheimer. Sein Stil der strikten Reduzierung hat ihn zum Star gemacht. Auf der Suche nach dem Kern der Stücke skelettiert er sie, verzichtet auf allen überflüssigen Ballast, stellt die Figuren aus, legt sie erbarmungslos unters Mikroskop. Dass so einer die „Winterreise“ nicht bebildern würde, war klar. Doch hier geht Michael Thalheimer noch weiter: Bühnenaufbauten von bezwingender Klarheit prägen seine anderen Arbeiten, wie zuletzt die „Ratten“, wo die Schauspieler gekrümmt in einem schmalen Schlitz zwischen einer riesigen Holzpresse spielen müssen. In der „Winterreise“ gibt es selbst das nicht mehr. Die Bühne ist leergefegt. Das war nicht von Beginn an so geplant. Ursprünglich sollte es zumindest eine weiße Wand geben. Das wäre aber auch wieder eine Art von Schutz gewesen, erklärt Thalheimer. Jetzt hat der Wanderer nichts außer sich selbst. Das Auge des Betrachters krallt sich an den Details fest, die verbleiben: Mimik, Kleidung, Licht, die Drehbühne, der gelegentlich fallende Schnee. Und an den drei Klavieren, die der Pianist bespielt. Denn auch die Hörwahrnehmung geht auf die Reise. Ein Klavier steht vorne, eines in der Tiefe der Bühne und eines unsichtbar auf der Seite. Der Klang wandert mit.

Es ist ja nicht so, dass der Theaterregisseur Thalheimer zum ersten Mal mit Musik zu tun hätte. Im Gegenteil: Musik begleitet oder strukturiert viele seiner Inszenierungen, von „Emilia Galotti“ bis jüngst zu den „Ratten“. Bei „Katja Kabanova“ an der Berliner Staatsoper und „Rigoletto“ in Basel hat er auch im Musiktheater Regie geführt. „Ich habe ewig gebraucht, um mich der Oper zu öffnen. Der Respekt vor dieser fremden Kunstform war einfach zu groß.“ „Rigoletto“ war dann der Durchbruch. Einmal pro Jahr will Thalheimer künftig Musiktheater inszenieren, als nächstes Mozarts „Entführung aus dem Serail“ im Juni 2009 an der Staatsoper. Dass er, anders als im Schauspiel, nicht in den musikalischen Text eingreifen kann, den die Partitur festlegt, stört ihn nicht: „Das Korsett der Musik empfinde ich als ein Gefängnis, das befreit.“

Ob es eine Befreiung oder Erlösung auch für den Wanderer gibt, lässt die „Winterreise“ offen. Im letzten Lied schließt er sich einem alten Leiermann an. Die Musik ist überwältigend einfach gesetzt, frostig, ohne Vorzeichen in a-moll, der Paralleltonart zu C-Dur, mit fürchterlich leeren, sich ständig wiederholenden Quinten. Ist der Leiermann die Personifizierung des Künstlers, des Retters oder des Todes? Ist der Wanderer zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch existent, oder der Welt schon abhanden gekommen? Auch Thalheimer beantwortet diese Fragen nicht. Aber für die Nacktheit des Menschen findet er ein berührendes Bild. Der Rest ist Dunkelheit.

Kammerspiele des Deutschen Theaters, Premiere heute, 19.30 Uhr (ausverkauft).

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false