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Musik-Rezension: Die Wahrheit in der Lüge

Der Musiker Schneider TM hat mit Gefangenen in zwei Berliner Jugendstrafanstalten Songs komponiert. Dabei ist auch ein Hörspiel entstanden.


"Mir ist egal, wer ihr seid, ich bin Berliner, guck hier,
Scheiß auf Backspin, ich bin im Berliner Kurier.
Ich hab das beste Label hinter mir, was könnt ihr gegen mich tun?
Denn jeder Song in meinem Leben ist gut."

(Fler, "Aggroberlina")

"Ich sage ohne Umwege die Wahrheit,
weil sie aus meinem Herzen herausschreit,
sie steht noch, wenn nichts mehr bleibt
und das Leben die Texte schreibt."
(Rabo Kivio in "Lüge vs. Wahrheit")

Im Gangsta Rap ist "street credibility" eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale. Mit Verachtung werden all diejenigen gestraft, die sich ein kriminelles Leben nur andichten - die Maßstäbe sind hoch. Es reicht noch nicht, im Gefängnis gesessen zu haben, wenn das lediglich die Strafe für den wiederholten Diebstahl von Kosmetika im Drogeriemarkt ist. Auch wird es im Zeitalter der Arschgeweihe immer schwieriger, seine Gefährlichkeit mit Tätowierungen aufzupeppen. Nein, wer im Gangsta Rap glaubwürdig sein will, muss schon mit Drogen gedealt, Körperverletzung oder Schlimmeres begangen haben.

In the ghetto

Lange Zeit traute man deutschen Rappern nur den notorischen Diebstahl von Zahnbürsten zu. Die Fantastischen Vier glänzten mit, nun ja, "college credibility". Doch die Zeiten haben sich geändert. Deutschlandweit sorgt das Hauptstadtlabel Aggro Berlin für Furore. Die Aggro-Rapper Sido, Bushido und Fler provozieren mit gewalttätigen Texten. Besonders Fler hat mit seinem Musikvideo "Neue Deutsche Welle" in den letzten Wochen viel Aufmerksamkeit erhalten. In dem Lied kommen Adler, deutsche Fahnen und Sätze wie "Das ist Schwarz-Rot-Gold, hart und stolz" vor. Die Süddeutsche Zeitung hat dem "HipHop von rechts" einen aufschlussreichen Artikel gewidmet.

"Harte, direkte Texte, die die soziale Realität im Plattenbau-Ghetto widerspiegeln", umwirbt Aggro Berlin die "street credibility" seiner Rapper. Nur: was ist hart und direkt an der Tatsache, dass man schon mal im "Berliner Kurier" zu finden war? Es gehört zwar zur harten sozialen Realität eines "Plattenbau-Ghettos", dass dort der Berliner Kurier gelesen wird. Aber das hat Fler sicher nicht gemeint. Er findet es cool, dass das Boulevardblatt über ihn berichtet, wahrscheinlich weil es von mehr Leuten gelesen wird als das Fler-kritische Hiphop-Magazin Backspin.

Anleitung zum Coolsein

Unter uns: Es gibt objektiv coolere Vorgehensweisen, die eigene "street credibility" zu untermauern. Eine Möglichkeit ist, bei der Beweisführung auf die trotzbedingte Nennung von Boulevard-Blättern und Label-Zugehörigkeiten zu verzichten.

Die Hauptstädter Ingo ("MV Egon") und Rados ("Rabo Kivio") sind seit kurzem mit einem Berliner Label verbunden, das den in Aggro-Ohren verdammt uncoolen Namen Lieblingslied Records trägt. Ihr gemeinsamer Rap hat es nicht in die deutschen Pop-Charts gebracht, auch in den Klingelton-Charts war "Lüge vs. Wahrheit" nicht vertreten. Ingo und Rados saßen zum Zeitpunkt der Aufnahme, dem Jahr 2004, in der Jugendstrafanstalt Berlin-Plötzensee ein. Hier wurde im Mai 2004 ein Flyer verteilt, der Teilnehmer für ein Musikprojekt suchte. Initiator von "Release" war der Hörspielregisseur Paul Plamper; mit im Boot saßen die Produktionsleiterin Marion Czogalla und der Musiker Schneider TM. Auch in der JVA Lichtenberg wurde der Flyer verteilt. Dort nahmen die Gefangenen Sabrina und Mogli an dem Projekt teil.

Hinter Gittern

Plamper ging es nicht darum, die "street credibility" der vier Insassen in hohe Verkaufszahlen umzumünzen. Ziel war vielmehr, mit einer Art Doku-Musical das Dasein hinter Gittern zu porträtieren. Die Aufnahmen zu den Rap-Songs wurden komplett mitgeschnitten und zu einem Hörspiel verarbeitet. Die Arbeit gestaltete sich schon deshalb schwierig, weil das Aufnahme-Equipment jedesmal mit Sondergenehmigung und Sicherheitscheck in die Gefängnisse transportiert werden musste. Zwischen August und Dezember 2004 wurde getextet, geprobt, aufgenommen und geschnitten, verworfen und abgeändert. Probleme gibt es auch, weil Rados wegen Auseinandersetzungen mit anderen Gefangenen häufig "Einschluss" hat. Ingo wirft Rados vor, sich bei den Proben keine Mühe zu geben. Mogli wird entlassen und ist zeitweilig verschollen.

Doch die Geduld der Produzenten zahlte sich aus. Im Dezember lief das Hörspiel "Release" bei WDR-1 Live. Die Doppel-CD mit Hörspiel, Videos und den fünf Songs wurde nun, ein halbes Jahr später, veröffentlicht. Nach dem Anhören hat man mehr über die vier Gefangenen erfahren, als sämtliche Berliner Kuriere zwischen München und Hamburg uns über einen Rapper namens Fler mitteilen können. Rados, Ingo, Sabrina und Mogli sprechen in ihren Texten und bei den Proben das aus, was sie bewegt: Zorn auf sich und andere, Hoffen auf einen Neuanfang. Dass Ingo alias "MV Egon" immer lügt, wie er in "Lüge vs. Wahrheit" behauptet, ist gelogen, aber es ist ehrlicher als sämtliche Reime des Zeitgenossen Fler.

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