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Musiknacht: Schläge auf den Klavierdeckel sind erlaubt

Sechs Stunden Revolution: Mit einer "Langen Nacht" erforscht die Akademie der Künste die Rolle der Musik 1968.

Die kunstvoll installierten Lautsprecher an der Außenmauer der alten Akademie der Künste am Hanseatenweg täuschen: Der derbe Blues-Rock, der ihnen entströmt, mag für viele Ausdruck der in den späten 60ern die Welt überflutenden Protestkultur sein. Aber die AdK widmet die Musiknacht, es ist die Abschlussveranstaltung der Retrospektive zur Kunst im Umfeld von 1968, natürlich in erster Linie der ernsten Musik. Und sie hat unter ihren Mitgliedern reichlich Komponisten, die damals ganz vorne mitgemischt haben, beispielsweise Dieter Schnebel oder Mauricio Kagel.

Wobei die Kombination Neue Musik- Politik natürlich so eine Sache ist. Schließlich steht die Avantgarde nicht ganz ohne Grund in dem Ruf, den gesellschaftlichen Realitäten denkbar weit enthoben und reinste L’art pour l’art zu sein. Man durfte also gespannt sein, ob hier nur ein paar in die Jahre gekommene Politaktivisten ein Veteranentreffen abhalten oder zeitgeschichtlich Bedeutendes zu gegenwärtigen wäre.

Über geschlagene sechs Stunden wandeln die Besucher von Saal zu Saal, hören durchweg gediegene Kammermusikdarbietungen, dazwischen gibt es einige Filme und Radiocollagen, auch eine kleine Podiumsdiskussion. Zu Begin intoniert das Kammerensemble Neue Musik „Anaktoria“ von Iannis Xenakis, ein Werk, das mit seiner an den Erfahrungen von Diktatur und Unterdrückung gestählten Klanglichkeit politisch verstanden werden kann. Immer wieder beeindruckend sind auch die Stimmkompositionen von Dieter Schnebel, von den Maulwerkern, diesem von Schnebel inspirierten Musikperformance-Ensemble, gewohnt souverän dargeboten. Hier ist es die radikale Dekonstruktion aller stimmlich-körperlichen Möglichkeiten des Menschen, die im Kontext von Emanzipation und Befreiung politisch interpretierbar ist.

Höhepunkt des Abends ist allerdings der Auftritt von Frederic Rzewski. Der 70-jährige Avantgardeveteran, der viel zum Thema Musik und Politik beigetragen hat, bewältigt mit stoischer, leicht distanzierter Miene einen fast zweistündigen Klaviermarathon. In 36 Variationen zerlegt er das kurz vor dem Pinochet-Putsch entstandene chilenische Lied „The people united will never be defeated“, eine Hymne der chilenischen Demokratiebewegung, in ihre Einzelteile. Dazu pfeift er gelegentlich, haut auch mal den Klavierdeckel, lässt abstrakte Kompositionstechniken und Jazzidiome vorüberziehen.

Und auch ein anderer Klassiker geht immer noch unter die Haut: Luigi Nonos Tonbandcollage „La fabbrica illuminata“ zeichnet den Verlauf des Stahls vom Hochofen bis zur Walzung mit Originalaufnahmen aus einem italienischen Stahlwerk akustisch nach und lässt erahnen, welchen Zumutungen die dortigen Arbeiter ausgesetzt sind. Wenig politisch, aber dafür sehr musikalisch geben sich hingegen Werke von Hans Werner Henze und Paul Dessau mit ihrer selten schönen Balance zwischen moderner Klanglichkeit und melodischem Reiz.

So präsentiert sich diese lange Nacht als reizvoller Gemischtwarenladen und macht damit das Beste aus einem Dilemma: Die großen Revolutionen der Musik fanden schon 50 Jahre vor Dutschke und Co. statt, man denke an die geniale Kombination aus Gebrauchsmusik und Neuklängen etwa bei Charles Ives. Und doch wollte man auch 1968 dabei sein, einen kleinen ästhetischen Fingerabdruck in unruhigen Zeiten hinterlassen. Was durchaus gelungen ist, aber nichts daran ändert, dass 68 vor allem als Siegeszug der Popkultur in die Geschichte eingegangen ist.

Ulrich Pollmann

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