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Martin Böttcher, Berliner DJ und Musikjournalist.

© Frauke Fischer

Neue Pop-Tipps aus Berlin: Spreelectro: Deep ist nicht gleich tief

Der DJ und Musikjournalist Martin Böttcher gibt auf Tagesspiegel.de schon länger Pop-Tipps. Für unsere Serie "Spreelectro" hat er sich inzwischen auf Berlin spezialisiert und empfiehlt Gutes aus der Hauptstadt.

Till von Sein: #LTD (SUOL)

Wie oft habe ich mir schon vorgenommen, das Wort „deep“ nicht mehr zu benutzen, wenn ich über Musik spreche? Oft, sehr oft, aber nur, um mein Versprechen schnell wieder zu brechen. Das liegt daran, dass, so peinlich Englisch-Sprech manchmal auch sein mag, in diesen vier Buchstaben so viel mehr mitschwingt als die offenkundige „Tiefe“: Deep, das heißt gerade in elektronischen Zusammenhängen: tiefgründig, mit Seele und Gefühl, ein Tauchgang, eine Abfahrt in Soundgefilde, die man als Produzent nur mit Konzentration und Leidenschaft und Können erreicht. Also das Gegenteil von billig, kreischend, effektheischend, offensichtlich. Nicht jeder versteht unter „deep“ das gleiche und nicht überall, wo „deep“ draufsteht, ist auch Tiefgang drin. Aber im Fall von Till von Sein, einem aus Norddeutschland stammenden, seit einigen Jahren in Kreuzberg wohnenden Produzenten, muss nicht mal „deep“ draufstehen und trotzdem ist vom ersten Ton an der Fahrstuhl in die Untergeschosse unterwegs. Deep House in Reinkultur, der für mich immer dann funktioniert, wenn es instrumental bleibt oder sich auf kurze Vocal-Samples beschränkt wird.

Drei Fragen allerdings bleiben: Bedeutet der Albumtitel „#LTD“ wirklich „Live Your Dream“? Das wäre peinlich. Heißt Till von Sein mit bürgerlichem Namen tatsächlich Sebastian Vettel? Kann ich mir nicht vorstellen, dafür geht er viel zu behutsam ans Werk. Und hat er für die Gesangsparts seiner Lieder wirklich keine besseren Sänger finden können? Irgendwie .... noch deepere?

Mark Reeder: Five Point One (Kennen)

Dafür, dass Mark Reeder seit Jahrzehnten zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle auftaucht, kennen ihn erstaunlich wenige Menschen. Mark Reeder kommt aus Manchester, lebt aber seit mehr als 30 Jahren in Berlin. Er war mit New Order und ihrer Plattenfirma Factory ganz dicke, ebenso mit Mick Hucknall, dem Rotschopf von Simply Red. Er hat den legendären ersten heimlichen Gig der Toten Hosen in Ost-Berlin organisierte, an Polizei und Stasi vorbei und er hat, wenn man es etwas vereinfacht, Paul van Dyk entdeckt und den Begriff „Trance“ populär gemacht. 

In wenigen Wochen wird Mark Reeder 54 Jahre alt, jetzt hat er eine Platte veröffentlicht: Five Point One. Genau genommen sind das zwei CDs und eine DVD. Darauf finden sich von ihm gemachte Mixe und Remixe für Depeche Mode und die Pet Shop Boys, für John Foxx und Anne Clark, für etliche gestandene und neue Musiker und zwar (deshalb die unterschiedlichen Formate CD und DVD) als normale Stereo-Mixe und als so noch nicht gehörte 5.1-Surround-Sound-Versionen, so dass man sich im Heimkino die Synthie-Klänge von allen Seiten in die Ohren spielen lassen kann. 

Alle Songs – auch einer von den Toten Hosen ist dabei – haben dabei ein ganz bestimmtes Feeling, das auf den ersten Blick was mit den 80er zu tun hat, auf den zweiten viel mit einer ganz bestimmten Herangehensweise: An den Originalen wird gar nicht so viel verändert, man erkennt sie sofort. Aber sie klingen druckvoller, kräftiger, fokussierter. Und wirklich abgefahren, wenn sie 5.1-mäßig aus den Boxen schallen. Retrofuturismus, wenn man so will, die Musik der Vergangenheit trifft auf den Sound der Zukunft und Mark Reeder ist schuld daran.

Smith & Smart: Blutsbrüder (Smith&Smart Records)

Ein Hip-Hop-Projekt hier bei Spreelectro? Kommt ja ab und zu mal vor – und zwar immer dann, wenn sich die Rapper zumindest teilweise der gemeinsamen Anfangszeit von Electro und Hip Hop besinnen. Außerdem: Wer, wie auf „Blutsbrüder“, einen seiner Songs „Rave wenn es erlaubt ist“ nennt, der kann kein schlechter Mensch sein. Das soll jetzt allerdings nicht heißen, dass Smith & Smart (Robert Smith und Maxwell Smart heißen die beiden Berliner mit vollständigem Künstlernamen) im Sinne von „David Guetta Feat. XYZ“ loslegen.

Im Gegenteil: Es geht um Atmosphäre. Ennio Morricone kann nämlich in bestimmten Fällen mehr als Dr. Dre. Das beste jedenfalls an diesem vierten Album von Smith & Smart sind die Samples, also die kleinen und großen Soundschnipsel, die man sich von anderen Musikern „geliehen“ hat. Von Cypress Hill bis zu Fünf Sterne Deluxe, aber auch Marlene Dietrichs „Sag mir wo die Blumen sind“ musste dran glauben, ebenso die Muppet Show, Klaus Wowereit, Winnetou, David Bowie. Ein musikalisches Wimmelbild? Irgendwie schon. Aber im positiven Sinne.

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