zum Hauptinhalt
325731_0_33b26d38.jpg

© promo

Neues Album: Joanna Newsom: Die Wunderstimme

Meisterwerk mit Überlänge: Die Songwriterin und Harfenistin Joanna Newsom und ihr Tripel-Album „Have One On Me“.

Von Jörg Wunder

In Tim Burtons „Alice in Wonderland“ gibt es eine schlimme Fehlbesetzung: Das Titellied wird von der zum Rock-Röhrentum neigenden Avril Lavigne gesungen. Dabei wäre als Stimme für einen Film, in dem sprechende Riesenkaninchen und fliegende Grinsekatzen ein Zauberland bevölkern, nur eine infrage gekommen – Joanna Newsom, jenes Harfe spielende Folk-Fabelwesen aus Kalifornien, das gerade sein drittes Album vorgelegt hat.

„Have One On Me“ ist ein Monstrum geworden: drei CDs mit 18 Songs und einer Spieldauer von über zwei Stunden – bei diesen Eckdaten hätten früher die meisten Plattenfirmen die Notbremse gezogen. Man denke an Prince, der in den Achtzigern am liebsten jede Platte zum Dreifach-Album aufgeblasen hätte und regelmäßig von Warner ausgebremst wurde. Für das Indie-Label Drag City aus Chicago könnte sich das Risiko lohnen: Einen Wellenbrecher in die Veröffentlichungsflut zu rammen, garantiert rentable Aufmerksamkeit.

Als Hörer muss man dieses Monument der Maßlosigkeit erst mal erklimmen. Hier werden sich Begeisterung oder Genervtheit nicht nur an der schieren Dauer und dem beinahe totalitären Anspruch scheiden, mit dem „Have One On Me“ ein Maß an Geduld und ungeteilter Aufmerksamkeit fordert, das in Zeiten multimedialer Reizüberflutung eine echte Herausforderung bedeutet.

Eine ähnliche Hürde dürfte die Stimme der 28-Jährigen darstellen. Joanna Newsoms Gesang ist eine hinreißende Provokation: ein eher dünner, pieksender Sopran, bisweilen in kindliche Kehllaute umschlagend, dann wieder kristallklar alle kompositorischen Stromschnellen umfließend und schließlich von einer Erdigkeit, die an uralte Schelllackaufnahmen von Blues-Ladies denken lässt. Mehr als einmal, nicht zuletzt in der perfekten Kontrolle ihrer Ausdruckmittel, erinnert Newsom an Songwriter-Ikonen wie Joni Mitchell oder Laura Nyro, aber auch die „Wuthering Heights“-Kiekser von Kate Bush und die mehrstimmigen Folk-Harmonien des „O Brother, Where Art Thou?“-Soundtracks sind ihr nicht fremd.

Im Vergleich zur Kratzbürstigkeit ihres 2004 erschienenen Debütalbums ist der Gesang auf „Have One On Me“ der pure Wohlklang: Mit der stimmlichen Intensität eines über eine Schiefertafel gezogenen Fingernagels und spartanischer Harfenbegleitung intonierte die damals 22-Jährige wunderliche Elfenmusik und wurde zur auffallendsten Erscheinung der amerikanischen Freak-Folk-Szene. Nur zwei Jahre später markierte der Nachfolger „Ys“ einen Entwicklungssprung, als wäre unmittelbar nach Erfindung des Rades das Raketenzeitalter eingeläutet worden. Newsoms Lieder mutierten zu weit ausholenden Erzählgedichten, für deren Arrangements sie den in Würde gealterten Van Dyke Parks zur vielleicht erstaunlichsten Leistung seiner zwischen Triumph und Scheitern irrlichternden Karriere anstiftete. Den instrumentalen Reichtum dieser bis zu 17 Minuten langen Stücke musste sie auf der Europatournee von 2007 besetzungsbedingt einschränken, was einen Schritt zum aktuellen Werk wies.

Die orchestrale Opulenz von „Ys“ weicht auf „Have One On Me“ kammermusikalisch verdichteten Arrangements, in denen die manchmal zur Instrumental-Arabeske marginalisierte Harfe wieder deutlicher ins Zentrum rückt. Mit geometrischer Präzision zupft und rupft Newsom polymorphe Klangräume, in denen sich die melodischen Verästelungen großzügig entfalten. Es sei denn, sie verzichtet auf die Harfe zugunsten ihres Zweitinstrument, des Pianos, wie im Opener „Easy“, in dem sich allmählich ein vielfarbiges Folkrock-Panorama mit Bläsern, Streichern und einem trunken polternden Schlagzeug entfaltet. Faszinierend, wie das Titelstück, ein metaphorisches Poem über die Liaison der Tänzerin Lola Montez mit dem bayerischen König Ludwig I., acht Minuten klappernd, trötend, klimpernd vor sich hin torkelt, ehe es in einem zum Dahinschmelzen schönen Satzgesang mit Tanzdielenbeat entschwebt. Erst in das letzte Drittel des Mammutwerks haben sich zwischen grandiose Stücke wie „Esme“ oder „Kingfisher“ auch einige schwächere eingeschlichen, aber selbst hier wird der Hörer immer wieder mit Momenten überirdischer Schönheit belohnt.

Ist „Have One On Me“ nun ein Meisterwerk? Als Prince seine Kreativität auf äußeren Druck hin bündeln musste, entstanden seine besten Platten. Ein wenig von dieser Beschränkung hätte Joanna Newsoms drittem Album vielleicht gut getan. Doch auch im ungekürzten Songwriter’s Cut bleibt es ein Meisterwerk – mit Überlänge.

„Have One On Me“ ist auf Drag City/Rough Trade erschienen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false