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Neues Album: Rauschen im All

Die Flaming Lips aus Oklahoma legen mit „Embryonic“ ein unverschämtes Meisterwerk vor.

Politiker haben ja selten Ahnung von Popmusik, doch hier bewiesen sie den richtigen Riecher: Als im Frühjahr der Song „Do You Realize?“ von den Flaming Lips zur offiziellen Rockhymne des US-Bundesstaats Oklahoma gekürt werden sollte, verweigerten zwei republikanische Abgeordnete die Zustimmung, weil sie Zweifel an der staatstragenden Tauglichkeit der Band hatten.

Tatsächlich könnte der Gegensatz zwischen konservativen Werten und radikalen Freigeistern wie den Flaming Lips nicht größer sein, auch wenn sich die Band in über 25 Jahren selten zu alltagspolitischen Themen geäußert hat. Die Flaming Lips sind, vor allem in Person ihres Vordenkers und Sängers Wayne Coyne, seit jeher praktizierende Träumer: freundliche Science-Fiction-Esoteriker, die ihr eskapistisches Utopia in psychedelischen Weltraum-Opern ansiedeln und dem selbstzerstörerischen Treiben der Menschheit mit der Fassungslosigkeit von Außerirdischen gegenüberstehen.

Auch durch das zwölfte Album „Embryonic“ zieht sich die Perspektive des außerhalb Stehenden oder – der Titel deutet es an – mit kindlicher Unschuld gesegneten Bewusstseins, das sich Gedanken über die Natur des Bösen und die Vergänglichkeit des Irdischen macht. Das erreicht erschütternde Dimensionen, wenn Coyne in der Songskizze „If“ mit brechender Fistelstimme konzediert, dass die Menschen nur dann nicht böse sind, wenn sie sich dagegen entscheiden.

Coynes Verse sind tastender als je zuvor: Aus schwindender Silbenzahl entstehen Miniaturen mit eingebauten Fragezeichen. Eindeutige Bedienungsanleitungen für Flaming-Lips-Songs gab es noch nie, nicht mal in ihren Anfangstagen, als sie mit Titeln wie „Jesus Shootin’ Heroin“ auf Schockmetaphorik setzten. Selbst die Simplizität von „Do You Realize?“ aus dem Jahr 2002 öffnet sich gegensätzlichen Deutungsmöglichkeiten. Kein Wunder, dass die Rockhymne Oklahomas sowohl bei Hochzeiten wie bei Beerdigungen zu hören ist.

Musikalisch verkörpern die Flaming Lips mit diesem und anderen Meisterwerken ihrer langen Karriere eine perfekte Balance: Enormes Melodiegespür verbindet sich mit psychedelischen Störgeräuschen zu rauschhaft sinfonischem Pop. Ein gänzlich originärer Sound, der jüngere Musiker wie Sufjan Stevens oder MGMT deutlich geprägt hat.

Wenn auf „Embryonic“ nun die MGMT-Hipster Ben Goldwasser und Andrew Van Wyngarden auf einem Stück mitmischen, ist das eine hübsche Verbeugung. Wirklich hören kann man es nicht: „Worm Mountain“ ist wie die Mehrzahl der 18 Songs aus spontanen Sessions entstanden, die anscheinend unter dem Motto standen: Mal gucken, was passiert, wenn wir alle Krach machen.

Ein kreativer Prozess, der zwangsläufig zur ruppigsten Flaming-Lips-Platte seit über 20 Jahren führt. Wayne Coynes bis zum Verstärkeranschlag verzerrte E-Gitarre dominiert ein von Dave Fridmann betont schroff produziertes Klangbild, dazu hämmert brachiales, klirrendes Getrommel des famosen Kliph Scurlock, der den Sprung vom Roadie zum vierten Bandmitglied schaffte. Michael Ivins steuert dröhnende Fuzz-Bässe bei, während Steven Drozd aus seinem Keyboard-Arsenal räudige Geräuschlumpen wringt. So entsteht an der Grenze zum Weißen Rauschen ein Free Rock, der permanent Einflüsse von Led Zeppelin und Love bis zum Mahavishnu Orchestra und Can unterpflügt: grandios und garantiert nicht radiokompatibel. Oder doch? Wenn der grindige Hardrock von Jack Whites neuester Combo The Dead Weather die Indie-Disco erobert, sollte dies für unter dem Wall of Noise begrabene Krypto-Hits wie „Convinced Of The Hex“ oder „Watching The Planets“ auch drin sein.

Außerdem ist „Embryonic“ kein Lärmmonolith. Stücke wie „See The Leaves“ oder „The Ego’s Last Stand“ beginnen mit Getöse und verhallen dann in akustischen Meteoritenschauern. Andere, wie das resignative „Evil“ oder „The Impulse“ offenbaren das melancholische Herz der Flaming Lips. „I Can Be A Frog“ lebt von dem bezaubernden Einfall, der Yeah-Yeah-Yeahs-Sängerin Karen O Tiere vorzugeben, die sie mit ansteckender Begeisterung lautmalerisch nachahmt. Einzig das scheppernde „Powerless“ bleibt eine überlange, köstliche Unverschämtheit, einschließlich des wohl lachhaftesten Gitarrensolos, das je den Weg auf Platte gefunden hat.

Nach drei für Indierock-Verhältnisse sehr erfolgreichen Alben konnten sich die Flaming Lips bei „Embryonic“ alles erlauben. Sie nutzen die Freiheit für ein 70-minütiges Machwerk von schwankender Genialität: vermutlich das Schrägste, was dieses Jahr auf einem Major Label erscheint.

„Embryonic“ erscheint am 23. Oktober bei Warner Records.

Jörg W, er

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