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Philharmoniker

© Rittershaus

Philharmoniker: Harter Stoff in Harlem

Simon Rattles Philharmoniker und das Berlin-Festival erobern New York. Alle Konzerte der Kulturbotschafter sind dort bereits ausverkauft.

In der Immigration Hall des New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafens herrscht eine Stimmung wie einst im Tränenpalast an der Friedrichstraße: Gestrenge Officers wachen über die korrekte Formation der Warteschlange, geduldig schieben sich die Einreisewilligen durchs Labyrinth der Absperrkordeln, kaum einer wagt richtig laut zu sprechen, bis er mit einem zackigen „Next!“ an den Schalter gerufen wird, um die penibel vorschriftsmäßig ausgefüllten Formulare vorzulegen. Widerstandslos gibt man seine Fingerabdrücke ab, blickt ins Kugelauge der Computerkamera. Da beginnt plötzlich einer der eben noch glasig auf seinen Bildschirm schauenden Grenzbeamten zu singen. Der Kollege zwinkert belustigt: „He is practising for Carnegie Hall.“

Die Berliner Philharmoniker, die hier gerade ins Land der Freiheit einreisen, müssen nicht mehr üben, um in dem berühmtesten Konzertsaal der USA auftreten zu dürfen. In diesem Jahr richtet die Carnegie Hall ihnen zu Ehren gar ein ganzes Festival aus. „Berlin in Lights“, eine zweiwöchige Hommage an die Kulturszene der deutschen Hauptstadt, startete am 2. November mit einem Auftritt von Max Raabe, brachte Vertreter aus Bildender Kunst, Film, Architektur und Politik auf Diskussionspodien zusammen, führte in einer Filmreihe im MoMA exemplarisch cineastische Tendenzen vor, beleuchtete in einer Ausstellung aktuelle städtebauliche Entwicklungen, gab Berliner DJs und Avantgardemusikern eine Plattform, um schließlich, als Höhepunkt, in einer achttägigen Residency der Berliner Philharmoniker zu kulminieren: mit drei sinfonischen Abenden unter der Leitung von Simon Rattle im großen 2800-Plätze-Saal und diversen Kammerkonzerten von den 12 Cellisten über das Scharoun Ensemble und das Philharmonia Quartett bis hin zum Finale mit den Berliner Barock Solisten am Sonntag.

Fünf Millionen Dollar hat CarnegieHall-Intendant Clive Gillinson für das Projekt bei amerikanischen Mäzenen und Sponsoren eingeworben. Das erste Themen-Festival des traditionsreichen Hauses ist ihm eine Herzensangelegenheit: Als er vor zweieinhalb Jahren seinen Job antrat, nahm er sich vor, die vielfältigen, aber nebeneinander herlaufenden Programmlinien in den drei Sälen des Kulturzentrums miteinander zu verknüpfen und Begegnungsmöglichkeiten für die Publikumsschichten von Klassik über Weltmusik bis Jazz zu schaffen. Der Besuch der Berliner erwies sich da als idealer gedanklicher Anker: „Fast alle bedeutenden Hauptstädte der Welt sind in erster Linie Finanz- und Wirtschaftszentren“, findet Gillinson. „Berlin dagegen definiert sich ganz aus seiner Kultur heraus“ – nicht nur, weil Künstler hier einfacher leben können als in New York, dank niedriger Mieten und geistiger Toleranz, sondern eben auch, weil sich die einstige Mauerstadt seit der Wende als richtungsweisendes Kreativzentrum des 21. Jahrhunderts neu erfunden hat.

Ein Blick von außen, der manches in die rechten Proportionen rückt, was selbst Lokalpatrioten im alltäglichen kulturpolitischen Klein-Klein oft nicht mehr angemessen zu würdigen wissen: Berlin begegnet New York auf Augenhöhe – da schreitet der Besucher aus Übersee mit neuem Selbstbewusstsein die 57th street entlang zur Carnegie Hall, wo die „sold out“-Schilder auf den Plakaten mit Rattles Konterfei prangen.

Und die Philharmoniker selber bekommen Lust darauf, bei ihrem Gastspiel im Big Apple nicht nur als Edelklangkörper aus der alten Welt für die versammelte New Yorker Kulturelite aufzuspielen, sondern auch ganz neue Formen der Kulturkommunikation auszuprobieren: Über 70 neighborhood concerts pro Spielzeit veranstaltet die Carnegie Hall, kleine, kostenlose Aufführungen in allen fünf Bezirken von der Bronx bis Queens. Fünf davon übernehmen diesmal die Philharmoniker. Clive Gillinson geht es bei den Nachbarschaftskonzerten nicht darum, potenzielle Kunden zu gewinnen. Der Kulturmanager ist ein Anhänger des alten 68er-Slogans „Kultur für alle“: „Der Erfolg dieser Aktion lässt sich nicht daran messen, dass wir mehr Tickets verkaufen. Es geht darum, dass wir zu den Leuten hingehen und ihnen die Begegnung mit klassischer Musik ermöglichen.“

So setzen sich beispielsweise die Mitglieder des Philharmonischen Bläserquintetts an ihrem freien Tag ins Taxi und fahren nach Chinatown, zur Heilsarmee, setzen sich im Andachtsraum auf die Bühne und spielen im grellen Neonlicht Mozart, duftig und elegant, obwohl die Luft im völlig überfüllten Saal schon nach 20 Minuten zum Schneiden ist.

In voller Orchesterstärke geht's dann ein paar Tage später zur 175th street, weit nördlich des Central Parks, bis vor kurzem für Weiße eine absolute No-GoArea. Im United Palace Theatre steht, einem indisch-byzantischen Prunkbau von 1930 mit 3500 Plätzen, der einst als VaudevilleShowbühne, dann als Kino genutzt wurde und heute von Reverend Ike als Privatkirche betrieben wird, findet das Education-Projekt der Tournee statt. Strawinskys „Sacre du printemps“, nach dem Berliner Erfolgsmodell von 2003 wiederum choreographiert von Royston Maldoom, diesmal aber mit 120 schwarzen Kids aus Public Schools in Harlem.

Acht Wochen haben die Jugendlichen geprobt und im Blog auf der Carnegie-Website Messages hinterlassen, die an das erinnern, was ihre Berliner Altersgenossen in dem Film „Rhythm is it“ erzählen: Wie die anfängliche Angst, dem eigenen Körper zu begegnen, dem Hochgefühl weicht, dass die Härte ihrer Tanzlehrer nur ein Ziel hat: den Pubertierenden zu helfen, die eigene Kreativität freizulassen. Und in der Tat reißt die Aufführung in ihrer emotionalen Unmittelbarkeit das Publikum förmlich von den Sitzen.

Während des umjubelten Abends werden die Berliner außerdem zum UnicefBotschafter ernannt, als weltweit erstes Künstlerkollektiv. Dafür ist sogar der Regierende Kultursenator Klaus Wowereit angereist, und er spricht voller Stolz von „seinen“ Philharmonikern, die das New Yorker Festival würdig krönen. Denn Jubelfeste sind natürlich auch die Auftritte in der Carnegie Hall, Feierstunden des philharmonischen Sounds, der sich hier noch sinnlicher, noch vollendeter zu entfalten scheint als zuhause. In Scharouns Philharmonie zielt alles auf Klarheit, auf protestantische Kunsternsthaftigkeit; der legendäre New Yorker Konzertsaal dagegen ist ein Hort des Spektakulären, mit Logenrängen wie in einem italienischen Opernhaus und einer Bühne, halbrund gebaut und mit einer Kuppel überhöht wie der Altarraum einer Kirche. Die Klänge, die hier entstehen, legen sich wie ein Kaschmirschal um die Zuhörer, Streicher von betörender Homogenität, eindringliche Holzbläser, das Blech wie frisch poliert, samtig tönend bei gleichzeitiger Tiefenschärfe.

Wie hoch das Ansehen der Philharmoniker in der Musikwelt ist, zeigt sich auch daran, dass sie bei ihrer Programmwahl freie Hand haben. Fast alle deutschen Orchester werden von Tourneeveranstaltern zu Beethoven-Brahms-Kombinationen gedrängt, Rattle und die Seinen dürfen an allen drei Abenden Zeitgenössisches mit schwer zugänglichen Spätwerken von Gustav Mahler kombinieren, so wie sie es bereits in Berlin getan haben. Herbstliche Abschiedsstücke, die ganz aus ihren Pianissimo-Passagen leben, Harter Stoff für Manhattan, wo – gerade rund um die Carnegie Hall – Dauerstau und Dauerlärm herrschen, wo gehupt wird wie in Kairo und gebaut wie in Peking. Genau in dem Moment, wenn sich Mahlers der Welt entrückte neunte Sinfonie im letzten, ersterbenden Todeston aushaucht, rast natürlich draußen einer dieser Polizeiwagen vorbei, dessen anschwellendes Sirenengeheul die Zuhörer mit dem akustischen Katapult zurück ins reale New Yorker Leben holt. If you can make it there, you'll make it anywhere!

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