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Popkultur: Der Picasso des Jazz

Mit einem radikalen Kunstwillen und großer Menschenfreundlichkeit auf der Suche nach Vollkommenheit: Der Schriftsteller Lars Brandt über den Saxofonisten Sonny Rollins, der gerade auf einer Tour durch Europa war und zum Abschluss auf dem Enjoy-Jazz Festival in Ludwigshafen gespielt hat.

Sonny Rollins ist nicht mehr der Zweimetermann von einst. Er wirkt inzwischen fragil. Mit achtsamen Schritten sucht er sich auf der Bühne seine Position, und dann, wenn er gebeugt sein Instrument ansetzt, mit dem ersten Ton, ist er nicht mehr zerbrechlich und alles Tasten klarer Bestimmtheit gewichen. Seine improvisierende Musik, die sich mit zahllosen Bezügen auf Selbstkomponiertes oder Fremdmaterial immer neu erfindet, deutet oft nur an, was an motivischen Entwicklungen auch noch möglich wäre.

Der inzwischen 81-jährige Pionier des Jazz war gerade auf Tournee durch Europa, und zum Abschluss spielt er in Ludwigshafen beim renommierten Enjoy-Jazz-Festival. Die Zuhörer sind sofort in seinem Bann. Das Tenorsaxofon lässt er in seinem ureigenen Ton sprechen, rauh und voller Energie, mit expressiver Kraft, die eigentlich nicht aus dem Leib eines alten Mannes kommen kann. Er hat sich in einem Interview darüber geäußert, welche Anforderungen es an einen Musiker wie ihn stellt, der jeden Augenblick schöpferisch sein will, mit Jüngeren zusammenzuspielen und seine mit ihren Kräften zu messen. Probleme, sich gegen die jüngeren Bandmitglieder durchzusetzen, hat er an diesem Abend in Ludwigshafen nicht, und die Band, mit einem brillanten Kobie Watkins am Schlagzeug, Peter Bernstein an der Gitarre, dem Percussionisten Sammy Figueroa und dem Bassisten Bob Cranshaw ist ihm ein echtes Gegenüber. Da kommen sehr unterschiedliche Temperamente und Erfahrungen zusammen. Figueroa zum Beispiel hat nicht nur bei Miles Davis, sondern auch schon für Mick Jagger oder Annie Lennox aufs Leder geklopft. Vor allem Kobie Watkins ist an diesem Abend für Rollins ein leidenschaftlicher und präziser Bühnenpartner, der jeden vorgegebenen Impuls aufgreift und in allen denkbaren Nuancen umsetzt.

Ein eigenartiges, fast ein wenig unwirkliches Gefühl, Sonny Rollins im Kreis dieser Band so funkensprühend zu erleben – ihn, der zum Club der wirklichen Erfinder des modernen Jazz zählt (nach seiner Auffassung die klassische Musik Amerikas), von dem außer ihm niemand mehr übrig ist. Seine Musik erzählt die andere Geschichte des so schreckensreichen zwanzigsten Jahrhunderts, die wachsender Freiheit, individueller Entfaltung, künstlerischer Entdeckungsreisen und Landnahmen. Dieser Künstler hat die Fenster aufgerissen und frische Luft hereingelassen, daran muss man denken, wenn man auf der Bühne in ihm einen vor sich sieht, der als junger Musiker noch mit Charlie Parker gespielt hat. Parker, der im selben Jahr 1955 starb wie Thomas Mann und Fernand Léger – das zur Verdeutlichung des Bogens, den Sonny Rollins dort oben schlägt.

Und das fällt mir ebenfalls ein: 1955 war auch das Jahr, in dem die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten entstand, nachdem eine schwarze Frau, Rosa Parks, im Bus verhaftet wurde, weil sie es abgelehnt hatte, ihren Sitzplatz für einen Weißen freizumachen. Musik, wie wir sie an diesem Abend zu hören bekommen, formuliert wechselseitigen Anspruch auf Geltung und Respekt. Sie hat von Anfang an stets auch politischen Charakter gehabt und ihn bis heute in einem universellen Sinn behalten. Rollins versteht Jazz als Weltmusik, offen für Einflüsse aller Kulturen.

Schon in den fünfziger Jahren pflegte der legendäre Schlagzeuger Max Roach, zu dessen Quintett er damals zählte, bei der Vorstellung der Bandmitglieder Sonny Rollins als letzten zu nennen und ihn so herauszuheben: als den Mann auf der Spitze über all den anderen Tenorsaxofonisten. Thelonious Monk, Charles Mingus, John Coltrane, Miles Davis – mit welchen der ganz Großen eigentlich hat Rollins im Lauf seines Lebens nicht zusammengearbeitet? Immer darauf bedacht, bis heute, nicht ins Klischee abzusinken, weiter frisch und überraschend zu spielen. Es gibt Kenner des Jazz, die in ihm nicht nur den bedeutendsten Tenorsaxofonisten sehen, sondern einen der wichtigsten Jazzmusiker überhaupt. Inspirierend jedenfalls, wie sich in dieser Art Musik radikaler Kunstwille und Menschenfreundlichkeit amalgamieren: Eine Mischung, die von ihrer Brisanz nichts verloren hat.

Bestimmt nicht in einer Zeit, die offensichtlich dazu tendiert, kommerziell kalkulierte Fabrikation zu überhöhen und in problematischer Gleichbehandlung dem an die Seite zu stellen, was ganz anderen Zielen zustrebt als Profitmaximierung. Wer sich bewusst nicht anpasst, weil es sich für ihn nicht darum dreht, möglichst gut zu verkaufen, zahlt dafür seinen Preis. „Get right with yourself“, sagt Sonny Rollins dazu. Jazz ist moderne Kunst höchsten Anspruchs (der Macher wie Rezipienten), die jenseits akademischer Enge Tradition mit permanenter Revolution kurzschließt. Geschichtsbewusst wie jede echte Avantgarde.

Was dieser Kerl da in Ludwigshafen zu bieten hat, biedert sich den Leuten nicht an, sondern nimmt sie ernst. Noch immer übt er täglich, heute sind es aber nicht mehr zehn Stunden. Nach wie vor ist Sonny Rollins, der mit dunkler Brille, dichtem weißgrauen Haar und ebensolchem Bart im weiten schwarzen Hemd auf der Bühne steht und seinem Saxofon nicht zu beschreibende Laute entlockt, auf der Suche nach Vervollkommnung. Nie am Ziel. Je mehr einer kann, desto klarer sieht er, was es außerdem gibt und wohin er noch will. Wenn es nicht um Geld geht, nicht um Breitenerfolg, worum dann? Um die Sache. Kunst und ihre Maßstäbe, unabhängig von Märkten und akademischen Juroren. Rollins hat sein Spiel und seine Kunstauffassung – vom Bebop über den Hardbop hin zu einem klassischen modernen Jazz – stetig fortentwickelt.

Nun, im hohen Alter, lässt er sein Saxofon noch immer vortragen, was für ihn im Zentrum steht – heute. Es ist ergreifend, wie sehr er sich an seinem Instrument auslebt. Insofern erinnert er an den alten Picasso. Andere Alterswerke, wie die von Braque oder Matisse, handeln von konzentrierter Reduktion, davon, ihren inneren Überfluss nicht dauernd weitflächig auszubreiten. Spätwerke werden argwöhnisch daraufhin befragt, was in ihnen sich weniger dem Erfahrungsreichtum, geänderter Perspektive auf Leben und Kunst als nachlassendem Leistungsvermögen verdankt. An diesem Abend ist von Kraftmangel wirklich nichts zu spüren. Und Ausdrucksvermögen ist nicht Dreißigjährigen mit ihren Artikulationsformen vorbehalten.

Wenn Künstler altern und Krankheiten sie behindern, wissen sie etwas, das sie vorher nicht einmal ahnen konnten. Probleme sind damit auch verbunden, sie betreffen nicht nur Saxofonspieler, die den Ton mit der Kraft ihrer Lungen, dem Atem, erzeugen. Bei Rollins langt er noch immer für die Zirkularatmung. Künstlern, die im Blickfeld der Öffentlichkeit arbeiten, stellt sich diese Frage mit zusätzlichem Ernst, wie es um ihre Leistungsfähigkeit steht, und mit Schärfe wird sie auch von außen gestellt. Was hat der Mann, der damals die „Freedom Suite“ schuf, noch zu bieten? Das Publikum im Pfalzbau in Ludwigshafen erlebt über anderthalb Stunden einen Musiker von ungebrochener männlicher Präsenz, rauher Wärme und einer Intensität, der man sich nach wie vor nicht entziehen kann.

Einen alten Künstler, der sich als unfertig empfindet und vielleicht auch darum frisch bleibt. Der daran glaubt, dass man fortwährend an sich weiterarbeiten muss. Im Bemühen, auch wenn man vielleicht mehr als jeder andere kann und weiß, weiterzusuchen und nur so zu den Fragen vorzustoßen, die man erst von diesem Gipfel aus erkennen kann.

Da ist ein Künstler, dessen Arbeit einem die Sinne schärft für das Unwiederholbare, für das Quecksilbrige der Momente. Mit Maximalismus, unter Anwendung entgegengesetzter Mittel, erreicht er damit letztlich so etwas Ähnliches wie John Cage mit seinem leeren Stück „4’33“, das die Zeit selbst klingen lässt, statt mit übersprudelndem Variationsreichtum zu zeigen, wie viel in sie hineinpasst. Bei aller Unvergleichlichkeit im Übrigen – auch Sonny Rollins gibt mit seiner Wahrhaftigkeit ein sehr grundsätzliches Statement ab, das sich als Kommentar zum Weltgeschehen jenseits von Bühne und Plattenstudio verstehen lässt.

Niemand, der ihn diesen Abend spielen erlebte, wird das vergessen.

Lars Brandt lebt als Autor in Bonn. Anfang Februar 2012 erscheint sein neuer Roman „Alles Zirkus“ (Carl Hanser Verlag).

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