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Wohin gehört ein Mensch: in die Familie – oder in die Welt? Szene aus Porto Alegre, wo Galera lebt.

© IMAGO

Porträt Daniel Galera: Das Leben ist einfach zu lang: Roman "Flut"

Der brasilianische Schriftsteller Daniel Galera beschreibt in seinem herausragenden Roman „Flut“ die Suche eines jungen Mannes nach dem Geheimnis seines Großvaters. Eine Begegnung mit dem 34-jährigen Autor, der in Porto Alegre lebt.

Daniel Galera trägt Turnschuhe, Jeans, T-Shirt und einen ausgewachsenen Vollbart, der ihn wie einen Holzfäller oder auch Folkmusiker aussehen lässt. Er gehört damit zur Minderheit der zeitgenössischen Schriftsteller mit anarchischer Vollgesichtsbehaarung – was sofort zu der Assoziation führt, nur er selbst könne der Held seines Romans „Flut“ sein. Jener lässt sich über mehrere Monate hinweg den Bart wachsen und wird so seinem verschwundenen, angeblich ermordeten Großvater immer ähnlicher. „Als die beiden sich schließlich gegenüberstehen, ist es, als ob sie in einen Spiegel schauten. Ich hab schon an meinem Spiegelbild gezweifelt, sagt der Alte, aber dies ist das erste Mal, dass mein Spiegelbild an sich selbst zweifelt.“

Und dann gibt es noch den Moment, in dem der Protagonist zusammengeschlagen wird und anschließend das Blut aus seinem Bart wringt. Der Szene verdankt Galeras Buch seinen portugiesischen Originaltitel: „Barba ensopada de Sangue“ – Blutgetränkter Bart. Doch trotz der äußerlichen Ähnlichkeit ist Daniel Galera nicht einverstanden mit der autobiografischen Lesart seines Romans. Er sei nicht mit seiner Hauptfigur identisch, sagt er auf Rio de Janeiros Buchbiennale, wo er auf einem Podium stoisch auch noch die belanglosesten Fragen des Moderators über sich ergehen lässt. Er sei ja ein ganz anderer Typ. Sein Protagonist habe beispielsweise noch nie ein Buch gelesen.

Daniel Galera.
Daniel Galera.

© Raul Krebs/Suhrkamp Verlag

Beim anschließenden Gespräch kommen wir auf die Frage der Gemeinsamkeiten zurück. Und jetzt gesteht Galera zu, dass er wie sein namenloser Held die Liebe zum Schwimmen im offenen Meer teile. Das Gefühl, wie das sei dort draußen, habe er vermitteln wollen. Außerdem versuche er wie sein Protagonist Illusionen im persönlichen Leben zu vermeiden, er sei Realist, Skeptiker und vielleicht ein wenig melancholisch. Realistisch, skeptisch, melancholisch. Es ist dieser Dreiklang, der den Sound von Galeras äußerst lesenswertem Roman ausmacht. Eine nüchterne, präzise Prosa fließt scheinbar ohne Höhepunkt und ohne Erzähler dahin, bis sich mit einem Mal – rhythmisch schön gesetzt – Momente von Gewalt und Veränderung einstellen.

Es ist dies schon der Fall in der großartigen Eröffnungsbeschreibung, in der, beiläufig erwähnt, eine Pistole auf einem Beistelltisch liegt. Ein Vater eröffnet seinem Sohn, dass er sich am nächsten Tag das Leben nehmen werde. Er habe die Nase voll: „Ich werde langsam krank, und ich habe keine Lust dazu. Das Bier schmeckt mir nicht mehr, die Zigarren bekommen mir nicht, aber ich kann trotzdem nicht aufhören, ich habe keine Lust, Viagra zu nehmen, um zu vögeln, ich vermisse es nicht mal. Das Leben ist zu lang, und ich habe keine Geduld. Wenn man so gelebt hat wie ich, ist das Leben ab sechzig nur noch eine Frage der Sturheit.“

Eine letzte Bitte hat der Vater noch an den Sohn: Er möge seine alte Hündin Beta einschläfern. Außerdem berichtet er vom seltsamen, nie aufgeklärten Mord am einzelgängerischen Großvater, einem Rettungsschwimmer, in einem Küstenort namens Garopaba. Der Sohn schläfert die Hündin nicht ein, zieht stattdessen mit ihr nach Garopaba, um dem Geheimnis des Großvaters auf den Grund zu gehen. Nichts hält ihn in Porto Alegre zurück, wo er lebt. Die Mutter wohnt in São Paulo. Ebenso der Bruder, ein Schriftsteller, den er hasst, weil seine große Liebe ihn für diesen verlassen hat. Doch wie sein Opa ist auch er Schwimmer und liebt das Meer. Das Schwimmen im tiefen Salzwasser ist für ihn keine Freizeitbeschäftigung sondern Notwendigkeit: schier unendliche, lebensgefährliche Freiheit. Der Großvater scheint der einzige in der Familie zu sein, mit dem er sich identifizieren kann.

Der Held kann sich keine Gesichter merken, nicht einmal das eigene

Wohin gehört ein Mensch: in die Familie – oder in die Welt? Szene aus Porto Alegre, wo Galera lebt.
Wohin gehört ein Mensch: in die Familie – oder in die Welt? Szene aus Porto Alegre, wo Galera lebt.

© IMAGO

Galera schildert detailreich, wie der junge Mann nach seiner Ankunft in Garopaba versucht in sporadischen Gesprächen mit den Einheimischen, etwas über seinen Großvater in Erfahrung zu bringen. Dabei stößt er auf Schweigen und Misstrauen und erhält subtile Drohungen. Die Dialoge finden nebenher statt, sind eingebettet in den Versuch, sich einen Alltag in Garopaba zu schaffen, mit Haus, Job und Freundin. Das Vorhaben wird erschwert durch einen Hirndefekt: Der Protagonist kann sich Gesichter nicht merken, nicht einmal das eigene, er hat sie nach wenigen Minuten schon wieder vergessen. „Bis vor ein paar Jahren bat er die Menschen jedes Mal um Entschuldigung, wenn er sie nicht erkannte, das war ganz normal, aber dann kam es ihm irgendwann lächerlich vor, und er hörte damit auf. Es war nicht seine Schuld.“ Sein Ziel aber, die Wahrheit über jene Ereignisse vor vier Jahrzehnten, verliert er nicht aus den Augen. Unser Mann ist Triathlet und als solcher geduldig und zäh.

Der 34-Jährige Daniel Galera wurde in São Paulo geboren und lebt heute im südbrasilianischen Porto Alegre. Er gehört zu den herausragenden Nachwuchsschriftstellern seines Landes. Wie die meisten von ihnen charakterisiert sich auch seine Literatur dadurch, dass sie ihre Themen im Intimen, im Familiären und eher in der Introspektion findet als in der Reflexion gesellschaftlicher Themen. Es sind Mittelklassemenschen mit Mittelklasseproblemen.

Im Gespräch sagt Galera in seiner zugewandten aber immer leicht abwesenden Art: „Der Roman hat nicht die Absicht, die soziale Realität Brasiliens darzustellen, aber es stimmt, dass dass ich die Wirklichkeit des Ortes zeige, in dem die Geschichte stattfindet.“

Tatsächlich vervollständigt Galera im Verlauf des Buchs das Bild Garopabas, einer schizophrenen Kleinstadt zwischen Fischertradition und Touristenrummel in den Sommermonaten. Bewusst lässt er die Geschichte im ungemütlichen südbrasilianischen Winter spielen, wenn die Bewohner von Garopaba unter Arbeitslosigkeit, Zukunftsangst und Depressionen leiden. Episoden sind es, die einen Ausschnitt Brasiliens fern von Samba-, Fußballklischees zeigen: Ein pensionierter Kommissar, der es vorzieht, sich einem Nachtklub zu treffen, wo man ihm eine Menge handfester Gefallen schuldet. Der Einbruch eines Junkies bei einem deutschen Bewohner Garopabas und wie die Polizisten den Dieb anschließend verprügeln. Der Wahlkampf zweier Bürgermeisterkandidaten, der in einer Straßenschlägerei ausartet.

Daniel Galeras Held ist auf der Suche nach einem Platz im Leben, er will nach seinen eigenen Überzeugungen und Regeln leben. Seine Suche bekommt etwas Mythisches, als er seinen Großvater schließlich nach einer Odyssee durch die Berge in einer versteckten Höhle findet und diese uralte, verrückt gewordene, tot geglaubte Gestalt versucht, ihn zu erstechen. Der Protagonist flieht in die stürmische Nacht hinaus, stürzt von einer Klippe ins Meer, wird an einen Strand gespült und in eine Prügelei um seine Hündin verwickelt. Es ist der Moment der Katharsis. „Es gibt nur zwei Orte, an die ein Mensch gehören kann“, schreibt Galera. „Der eine ist die Familie. Der andere ist die ganze Welt. Manchmal lässt sich schwer sagen, an welchem von beiden man gerade ist.“

Daniel Galera: Flut. Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 425 Seiten, 22,95 €.

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