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Tontüftlerin. Johanna Borchert, geboren 1983, hält sich ungern an Noten.

© Promo/Frank Schemmann

Porträt der Musikerin Johanna Borchert: Kaugummi im Klavier

Jazz bis Avantgardepop: Die Berliner Pianistin und Sängerin Johanna Borchert ist eine Klangsucherin. Jetzt tritt sie in der Berghain Kantine auf.

Diese Geschichte beginnt in Hellersdorf, an einem milden Juniabend. Dort, so jottwede von Szenekiezen, ist die Fête de la Musique keine Straßenparty, hier wird bei der Jazzbühne im Kulturforum mit Inbrunst zugehört. Ein funktionaler Flachbau, Türbeschriftungen auch in Kyrillisch, ein freundlicher Bühnenraum, drei Dutzend Leute, fünf Formationen, eine davon ist Johanna Borchert. Einen Monat zuvor hat sie in Hamburg den Echo Jazz 2015 für ihr Album „FM Biography“ überreicht bekommen als „Beste Sängerin national“.

Diverse Zeitungen von der „Zeit“ bis zur „Süddeutschen“ haben die CD mit Lob überschüttet. Eingespielt hat sie sie mit bekannten Größen: dem britischen Gitarristen Fred Frith, dem New Yorker Bassisten und Produzenten Shahzad Ismaily, dem Schweizer Drummer Julian Sartorius. Und nun spielt die Frau, die in Berlin sonst eher auf dem Jazzfest oder im A-Trane zu hören ist, hier einfach so solo und ohne Gage.

Groß ist sie und der Zopf so rot wie das Holz ihres Klaviers. „Bitte alle aufstehen und auf drei so laut schreien, wie es geht“, fordert Johanna Borchert die Leute eingangs auf. So was. Diese Art von zupackender Publikumsansprache gibt es bei wahlweise coolen oder vergeistigten Jazzkonzerten sonst nicht. Auf Schreien im Stehen folgt dann Summen im Sitzen. Manometer, bei Frau Borchert ist was los. „Sie sind die Ersten, mit denen ich das mache“, sagt sie, „vielleicht auch die Letzten“, aber sie brauche das Summen, um dazu zu spielen. Und dann macht Johanna Borchert mittels des Klaviers, ihrer warm timbrierten Stimme und gesampelten Effekten einen Klangkosmos auf, den das Kulturforum Hellersdorf gewiss eher selten zu hören bekommt.

Mal experimentell, dann wieder mitsingbar

Dynamische, kräftig gesungene Singer-Songwriter-Passagen in „Wide Land“ wechseln mit minimalistischen, klangmalerisch gesetzten Tonfolgen in „Birdie Toes“. Sie spannt Bogenhaar oder Kaugummistangen zwischen Klaviersaiten und schlägt, kratzt, zupft immer neue Farben aus dem Instrument. Eine Tontüftlerin, die frei und experimentell unterwegs ist und gleichzeitig mitsingbare Verse anbietet. So wie die Zeile „We’re all fucking funny freaks“ aus dem Song „Lightyears“, zu dem es auf Johanna Borcherts Homepage ein schickes Video gibt, in dem sich die mit knackiger Percussion akzentuierte Nummer als eingängiger Pop empfiehlt.

„Nicht zu komisch?“, fragt sie die Leute einmal, als sie eine ihrer ausdauernden Klangexpeditionen beendet. Und als die sichtlich animiert die Köpfe schütteln, sagt die kühl-konzentrierte Frau, die so gar nichts von einem Nerd hat, „Ich kann noch komischer!“ und schickt sich an, Essstäbchen ins Klavier zu friemeln.

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„Das war ein ziemlich untypisches Konzert“, kommentiert Johanna Borchert den umjubelten Abend gut fünf Monate später im Kreuzberger Winter. Da hat sie recht, auch wenn sie damit meint, dass sie bei Bandauftritten, wie am Donnerstagabend in der Berghain Kantine, keinesfalls am Klavier bastelt. Dort tritt sie mit Peter Meyer an der Gitarre, Jonas Westergaard am Bass und Moritz Baumgärtner am Schlagzeug auf. Die Herren Frith, Ismaily und Sartorius waren dann doch zu teuer und viel zu beschäftigt, um mit ihr in ganz Deutschland auf Tour zu gehen. Obwohl Gitarrenguru Frith an der Entstehung einiger Songs des Albums seinen Anteil hat. Nach einer gemeinsamen Jamsession in New York verhalf er Johanna Borchert zu einem mehrmonatigen Aufenthalt am Mills College im US-amerikanischen Oakland, wo er unterrichtet. Die dort Musik und Text gewordenen kalifornischen Impressionen finden sich auf „FM Biography“. Ein Album, das mehr Avantgardepop als Jazz ist und an Musikerinnen wie Björk, aber vor allem Laurie Anderson denken lässt, die einst Absolventin des Mills College war.

Sie kam in Berlin zur Welt und wuchs in Bremen auf

Johanna Borchert trägt die Zuschreibung mit Fassung, obwohl sie deren Musik erst kennengelernt hat, als ihr kunstvoll mit elektronischen wie akustischen Mitteln spielendes Album fertig war. Mit Band spiele sie eher Pop, solo eher Jazz, sagt sie. „Und wenn man Jazz als Improvisation definiert, als Musik, die aus dem Moment lebt, dann habe ich immer Jazz gemacht.“ Schon als Kind, im Klavierunterricht, hat sie sich ungern strikt an Noten gehalten. Sie ist Jahrgang 1983, in Berlin geboren, in Bremen aufgewachsen und hat Jazzklavier- und Komposition an der Universität der Künste Berlin und dem Rytmisk Musikkonservatorium in Kopenhagen studiert. Jetzt lebt sie nach den Stationen Dänemark, Frankreich, Indien, USA wieder in Berlin. Mit den Bandprojekten Little Red Suitcase und Schneeweiss & Rosenrot tourte sie durch die ganze Welt, seit fünf Jahren ist sie nun unter ihrem eigenen Namen unterwegs.

„Musizieren ist eine Art von Reinigung“

Gerade sitzt sie an einem Kompositionsauftrag der Jenaer Philharmonie, die im nächsten Jahr Anfang Dezember Borchert-Liederabende veranstalten wird. Und vor allem an ihrem neuen Album, das nächstes Jahr produziert wird. Dafür habe sie immerhin schon einen Berg Texte zusammen, sagt Johanna Borchert. Sie schreibt auf Englisch, „weil ich alle, nicht nur Deutsche erreichen will“.

Johanna Borchert ist, bei aller Freude an instrumentalen Abstraktionen, eine Musikerin, die an spirituelle Inspiration und die Macht der Gefühle glaubt. „Musizieren ist eine Art von Reinigung“, sagt sie, dabei gehe es immer um Wahrheit und die könnte durchaus musikalischer Natur sein. „Wenn ich nicht glaubte, dass Musik die Welt positiv beeinflusste, würde ich keine machen, dafür ist das Geschäft mit der Musik viel zu anstrengend.“ Angesichts der von Themen wie Flüchtlingskrise und Terrorismus dominierten Politik sieht sie sich ganz klar in der Pflicht, „mit künstlerischen Möglichkeiten die Menschen zu öffnen“.

Genau dieser Zauber hat an dem milden Juniabend in Hellersdorf gewirkt. Da gelang es Johanna Borchert, die Leute zu öffnen: erst ihre Bronchien, dann die Ohren und schließlich das Herz.

Konzert: Berghain Kantine, Do 10.12., 20.30 Uhr; Album: „FM Biography“ ist bei Yellowbird erschienen.

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