zum Hauptinhalt
Englebert Munyambonwa auf dem Buchcover von "Plötzlich umgab uns Stille".

© promo

Porträt eines Überlebenden aus Ruanda: Wen der Zufall wählt

Bewegendes Porträt: Ein überlebender Tutsi aus Ruanda berichtet in "Plötzlich umgab uns Stille" von den Schrecken, die er erlebt hat.

Die große Heimat der Seele ist die offene Straße, hat D. H. Lawrence einmal gesagt, und die Literatur über das Gehen und beim Gehen Denken ist unüberschaubar. Auch Englebert Munyambonwa geht. Endlos streift der 66-Jährige durch die Provinzstadt Nyamata in Ruanda, durch heruntergekommene Bierkneipen und Teestuben, lässt sich hier ein Glas ausgeben, gibt dort eine Anekdote zum Besten, bis er abends in seiner Absteige einschläft und hofft, nicht von Albträumen heimgesucht zu werden. In engen Räumen hält er es nicht mehr aus.

Doch die Geschichte, die für Englebert entscheidend war, erzählt er seinen flüchtigen Bekannten nicht. Auch mit den wenigen engen Freunden, die er noch hat, redet er darüber selten. Denn seine Geschichte handelt von einem der grausamsten Massaker, das die Welt in den letzten 30 Jahren gesehen hat, vom Genozid der Hutu-Mehrheit an der Minderheit der Tutsi. Stattdessen erzählt er sie dem französischen Reporter Jean Hatzfeld, der seit den siebziger Jahren aus Ruanda berichtet, im Psychosozial Verlag schon zwei bewegende literarische Dokumentationen zum Thema veröffentlicht hat und das Leben des Englebert Munyambonwa in einem Porträt mit dem Titel „Plötzlich umgab uns Stille“ wiedergibt.

Den Fehler machen, ein Tutsi zu sein

Englebert Munyambonwa ist Tutsi. In seinen Adern fließt das königliche Blut seines Urahnen Mwamim, auf das Engleberts Vater, ein wohlhabender Viehzüchter, so stolz war. Inzwischen hat sich der Alkohol in Engleberts Blutbahnen breitgemacht. Er will nicht mehr wissen, dass er einmal ein aufstiegshungriger junger Mann war, der seinem erfolgreichen Bruder Narcisse nacheiferte. Der es trotz der schon 1959 und 1979 ausgebrochenen ethnischen Konflikte auf den Hügeln, wo seine Herkunftsfamilie lebte, in Kigali hätte weit bringen können, hätte er nicht „den Fehler“ gehabt, „ein Tutsi zu sein“.

Doch am 11. April 1992 kommen „die Anderen“, die Hutu, wieder auf die Hügel. Sie tragen Macheten in der Hand und schlachten die in die Sümpfe flüchtenden Tutsi ab, plündern ihre Häuser und rauben ihr Vieh. Englebert schildert diese fünf Wochen in den Wasserlöchern, in denen es nur darum geht, den langen Messern zu entgehen, bedrückend sachlich: Kein Gespräch und keine Nähe gab es in dieser jede Minute bedrohten Überlebensgemeinschaft, aber einen Rest an Solidarität. Er, dessen Name Munyambonwa „der den Blick auf sich zieht“ bedeutet, entgeht der Aufmerksamkeit der Hutus. Keine Vorsehung, weiß Englebert, „es war der Zufall, der mich ausgewählt hat.“

Warum waren wir da und die anderen nicht?

Wie viele Überlebende treibt ihn danach die Schuld um: Warum hat er überlebt und nicht – mit Ausnahme eines Bruders, der nach Quebec fliehen konnte – seine Familie? Warum muss er seine Einsamkeit ersäufen? „Wir fragten uns manchmal, warum wir da waren und die anderen nicht.“ Englebert berichtet in einem manchmal enervierenden, doch berührenden Stakkato, das ihn in seiner Not zeigt, ohne ihn vorzuführen. Dass das Glück an einem ausgegebenen Primus-Bier hängen kann oder an einem Schlafplatz, ist für ihn noch immer eine Frage der Würde.

Jean Hatzfeld: Plötzlich umgab uns Stille. Das Leben des Englebert Munymbonwa. Aus dem Französischen von Ahlrich Meyer. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 108 S., 9,90 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false