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Die neue Zeit. Taner Sahintürk, Marleen Lohse und Ruth Reinecke in Nurkan Erpulats Tschechow-Version.

© Barbara Braun/drama-berlin.de

Premiere am Gorki-Theater: Migration mit Tschechow-Hintergrund

Eine frische Bühne für die Hauptstadt: Das Maxim-Gorki-Theater feiert einen alles in allem gelungenen Start in die erste Spielzeit unter neuer Führung mit einem türkischstämmigen „Kirschgarten“.

Riesenjubel nach der Premiere. Bauchtanz im Foyer. Currywurst im Garten. Berlin hat ein neues Theater, ein junges Ensemble in einem alten Haus. Dem kleinsten unter den großen der Hauptstadt: Hier ist alles auf Aufbruch gebürstet, und das fühlt sich erst einmal gut an. Weil ringsumher nichts als gepflegte Stagnation herrscht.

Und da stehen sie und verbeugen sich, feiern den alles in allem gelungenen Start der Intendanz von Shermin Langhoff und Jens Hillje. Nurkan Erpulat hat Tschechows „Kirschgarten“ inszeniert, die Betonung liegt auf „Komödie“. Die Langhoff-Truppe ist komplett neu beieinander und präsentiert sich in einer mutigen Eröffnung. Sie wollen sprechen über dieses Land, ihre Existenz in verschiedenen Kulturen. Angriffslust und Lebensfreude will dieses Theater verkörpern – mit einem Dramatiker, dessen Figuren genau das abgeht, die herumsitzen und die Liebe und das Leben verpassen. Vor deren Augen aber auch eine andere Zeit heraufzieht.

Es ist natürlich viel zu früh, etwas über den Stil des neuen Gorki zu sagen. Eine Inszenierung macht noch keinen Spielplan. Aber einiges lässt sich doch schon erkennen. Nurkan Erpulat arbeitete mit Shermin Langhoff in Kreuzberg am Ballhaus Naunynstraße zusammen und schaffte es mit „Verrücktes Blut“ zum Theatertreffen. Das Stück wird am Gorki wieder aufgenommen, und die wundervolle Sesede Terziyan und auch Tamer Arslan sehen wir jetzt bei Tschechow. Subtil wird man Erpulats Regie nicht nennen können, es geht direkt zur Sache. Er hat einen Zug zum Boulevard, aber das passt zum Gorki und seiner Lage.

Ein Underdog erfindet sich neu

Das Maxim-Gorki-Theater war stets der Underdog im Zentrum, und so sieht es auch Shermin Langhoff: Der Begriff Migrationshintergrund kann getrost verschwinden, wenn es selbstverständlich geworden ist, dass die Schauspielernamen auf dem Besetzungszettel eines Berliner Staatstheaters türkisch oder russisch klingen. Oder deutsch.

Reden wir nicht mehr über Multikulti oder Vielfalt. Oder doch: Reden wir darüber mit Tschechow und hören zu. Und da hilft es, dass Ruth Reinecke mitspielt. Sie ist seit 1979 am Maxim-Gorki-Theater engagiert. Da hat sie viel erlebt. 1988 gehörte sie zu Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“. Das Stück war eine Variation auf Tschechows „Drei Schwestern“ und der morbiden DDR, also eher das Bild einer Untergangsgesellschaft.

Jetzt gibt Ruth Reinecke die Ranewskaja. Für diese Rolle braucht eine Schauspielerin Erfahrung, aber noch mehr Frische. Die Ranewskaja kommt aus Paris nach Russland zurück, sie ist pleite, das russische Gut steht zur Versteigerung, in der Liebe sieht es nicht viel besser aus. So beschwört sie sich selbst: „Ich bin zu Hause. Endlich wieder in der Heimat. Wie sehr ich alles vermisst habe. Mein liebstes, schönes Zimmer. Hier habe ich gespielt, als ich klein war. Und jetzt ist es wieder, als wär ich klein...“

Das ist ihre Geschichte – und der Grundton bei Nurkan Erpulat, der auch die Textfassung gemacht hat. Die Menschen sind Getriebene. Auf der Bühne stehen eine Menge Biografien nebeneinander, westliche, östliche, nördliche, südliche. Tschechow als Weltbürgermikrokosmos. Bei der Unterhaltungsdame Charlotta, eigentlich nur eine Nebenfigur, bleibt auch die Frage des Geschlechts unklar. Ich bin, was ich bin. Aber wer bin ich? Fatma Souad bekommt einen großen Auftritt als Travestieact. Tschechows Tante. Mit Aretha Franklins „Respect“.

Aber so richtig will es nicht funken. Irgendetwas hält diese Charlotta zurück. Man könnte sagen, es ist das Tschechow-Gen. Sich selbst nicht kennen – oder zu gut kennen. Feststecken in seinen eigenen kleinen Katastrophen.

Ruth Reineckes Ranewskaja steht das Neben-sich-Sein ins Gesicht geschrieben, sie spielt es nur meist schnell weg. Und so singen sie viel und inbrünstig und sehr plakativ. Deutsches Liedgut. „Am Brunnen vor dem Tore“, mit türkisch-arabischen Schleifen. Dies ist ein Berliner „Kirschgarten“, mit Lindenbaum, Unter den Linden, und der Geschäftsmann Lopachin, der ihn bei der Versteigerung erwerben wird, ist ein Türke, der bei der Gelegenheit seine ganze Frustration und Bitterkeit mit dem neuen Stolz herauslässt: „Ich habe das Gut gekauft, auf dem mein Vater und mein Großvater Sklaven waren und nicht mal in die Küche durften. Das ist richtig geil. Das ist richtig gut. (...) Ich habe mir eine Heimat gekauft.“ Und er sagt noch, dass er ein blöder Macho sei und nie den richtigen Ton treffe und dass man ihm immer nur die kleinen Rollen geben wollte am Theater.

Viel Durcheinander und Mühe

Taner Sahintürk fällt aus der Hauptrolle, die dieser Lopachin im „Kirschgarten“ spielt. Eine Entdeckung: Er fängt mit Slapstickmimik an, will der Gute sein, der Retter, wird nicht ernst genommen und schlägt dann hart zu mit seinem hart erarbeiteten Geld. Er braucht die ganze Spieldauer – gut zwei Stunden, eigentlich recht kurz für Tschechow –, um zu sich zu kommen und Warja grob stehen zu lassen, die ihn liebt. Es scheint eine Rache zu sein, diese Abweisung, vielleicht unbewusst. Lopachin, der Herr der Zukunft, will nichts mehr wissen von der alten Gutsherren- und Frauenfamilie. Dabei ist Warja bei Sesede Terziyan nicht wie sonst das bittere Mauerblümchen, sondern eine starke, attraktive, elegante junge Frau. Das gilt auch für Marleen Lohse (Anja) und Mareike Beykirch (die etwas zu aufgekratzte Dunjascha). Mit diesem Ensemble werden wir noch Freude haben. Der sonor tönende Falilou Seck gewinnt als Gajew viel Sympathien mit seinem unstillbaren Rededrang; ein alter Linker mit dem großen Durchblick. Cetin Ippekaya als greiser Diener Firs, Einwanderer der ersten Generation, findet Heimat allein in der Muttersprache und in Erinnerung an die alten Zeiten sklavischer Existenz. Es geht ans Herz, wie er am Schluss zurückbleibt und in seine Klarinette bläst, nobel in seinem Ernst.

Zuvor aber: viel Durcheinander und Mühe. Forcierte Verzweiflungschoreografie, wenn sich die Akteure gegen die Wand werfen. Das Bühnenbild von Magda Willi nimmt das Rautenmuster des Zuschauerraums auf und ist nüchtern gehalten. Quietschbunt und quer durch den Folkloregarten: die Kostüme von Ulrike Gutbrod. Es gibt Löcher in der Inszenierung, weil Erpulat noch mehr will und mächtig holzt und sich nicht auf Tschechow und seine Schauspieler verlässt. Wenn irgendwelche Asylsuchende (woher?) bettelnd durchs Bild laufen und die Frau am Klavier einfach weiterspielt und immer lauter. Erst trägt sie streng Kopftuch, dann das Haar offen, und Charlotta kommt auch mal als Burka-Gespenst herein, mit wenig drunter.

Des Kirschgartens Kern überrascht wieder. Lopachin hat gekauft, Lopachin will feiern. Mit großer türkischer Festgesellschaft, Kitschdekoration, martialischer Musik. Es fließt Ayran und Mineralwasser. Diese Lopachin-Party erschreckt, da kommt schwer Traditionelles, das riecht nach Konflikt. Und Klischee.

Die Frage der Identität ist bei Tschechow zentral. Nurkan Erpulat spielt sie mit seinen etwas groben Mitteln gut gelaunt durch. Das Ensemble zeigt Muskeln und viel Charme. Der „Kirschgarten“ wird verschwinden, die neue Zeit soll Glück und Geld bringen. Ein schönes Bild für eine Theatereröffnung: Niemand fängt bei Null an, jeder hat sein Gepäck. Und daraus wird ein Zuhause.

Wieder am 19. November und am 4. und 11. Dezember.

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