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Kultur: Premiere nach vierzig Jahren

Der verbotene Defa-Film „Die Taube auf dem Dach“

Kosmos, Raumschiff und Schwerelosigkeit; eine Kinderschaukel, Überschlag über die Stange – halbe Schwerelosigkeit; dann der Aufprall, Schwerkraft und Ankunft auf Erden: Daniel schaufelt Sand auf einer sozialistischen Baustelle. Das sind die ersten drei Szenen. Wer so erzählt, hat sein Misstrauen gegen das gewöhnliche Erzählen, oder sagen wir: gegen das gewöhnliche Defa-Erzählen, schon bekundet. Es ist eine jener DDR-siebziger-Jahre-Baustellen, mit denen Erich Honecker den Sozialismus doch noch zum Sieg führen wollte. Wenn erst jeder seine eigene Wohnung hat! Bis zum Jahre 1990 sollte es geschafft sein. Mag sein, der Sandschaufler (Andreas Gripp) – Student auf Ferienarbeit – hält solche Ziele für kleinbürgerlich. Und ihm die Versetzung eines Sandhaufens anzuvertrauen – ist das nicht Verschwendung von Kraft und utopischer Energie gleichermaßen? Bald haben wir das Jahr 2000 und ihr schließt abends um acht die Haustüren ab!

So beginnt „Die Taube auf dem Dach“ von 1973, ein Film, den es eigentlich gar nicht gibt. Zwei Mal schon ging er verloren. Er war das Ergebnis eines Missverständnisses. Anfang der siebziger Jahre hatte Erich Honecker nicht nur über Wohnungen, sondern auch über die Kunst gesprochen: Ohne Tabu soll sie sein! Darum häuften sich nun 1973 die tabulosen Defa-Filme, darunter „Die Legende von Paul und Paula“ und Egon Günthers großartiger Film „Der Schlüssel“. Und nun auch noch, als letzter, so ein Taubenfilm, der sich nicht wie ein ordentlicher Film, sondern eher wie sein Titelvogel zu bewegen scheint, irgendwie flatternd, schwebend, äugend, hier pickend, da pickend.

Schon die Fortbewegungsform ist wunderbar. Die Stimmen der Menschen sind nur Stimmen unter vielen, auch nicht unbedingt immer handlungsfördernd, etwa wenn der Weihnachtsglaskugelhersteller am Ende zum Philosophen und Diktator wird: Welche Illusion von Freiheit, die immergleichen Kugeln nur noch auf den immergleichen Bäumen verteilen zu dürfen. Vielleicht hätte die seltsame Institution, die in der DDR darüber entschied, ob ein Film dem Volk zumutbar war oder nicht, das alles ertragen, aber den Baubrigadier Hans Böwe (Günter Naumann) ertrug sie nicht: Ein Arbeiter als tragische Figur?

„Die Taube auf dem Dach“ ist Iris Gusners Spielfilmdebüt. Solche wie Böwe gab es schon damals kaum noch: einer, der dahin ging, wo er gebraucht wurde, von Großbaustelle zu Großbaustelle. Unterwegs hatte er seine Familie verloren. Und nun steht da ein junges Mädchen vor ihm, das behauptet, seine Bauleiterin zu sein (pragmatisch, zugleich mädchenhaft-verhalten, sehr blond und selbstbewusst: Heidemarie Wenzel). Was soll er tun? Er könnte ihr zeigen, dass einer wie Böwe nicht zu kommandieren ist. Er könnte sich auch in sie verlieben. Er entscheidet sich für die zweite Möglichkeit.

Man hätte ein derbes, handfestes, geradliniges Stück Vorwärts!-Kino daraus machen können, statt dieses Schwebefilms, der alles nur zu leicht berühren und in seine Eigenschwingungen zu versetzen scheint. Und dabei so wunderbar vage bleibt wie das Leben selbst. Schon ein Kuss in die Handfläche, sehen wir, macht manchmal ein endgültiges Abschiedswort unmöglich.

„Die Taube auf dem Dach“ forderte das Misstrauen der DDR-Kunstwarte heraus: Der Feind kommt auf Taubenfüßen? Wir bemerken ihn trotzdem! Anders als andere Verbotsfilme wurde dieser zerstört. Dass dennoch eine Kopie erhalten blieb, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass auf ihr der frühere Arbeitstitel stand: „Daniel“. Nach zwei Aufführungen 1990, fast ohne Resonanz, schien er in den DefaErbwirren die Unauffindbarkeit vorgezogen zu haben.Jetzt also die wirkliche Premiere, fast vierzig Jahre später. Welche Zukunftserwartung über diesem Film liegt: das Jahr 2000 – was für ein Horizont! Man sieht es mit leiser Trauer. DDR-feindlich war die „Taube“ natürlich nicht. Nur kleinbürgerfeindlich. Kleinbürger merken so etwas. Kerstin Decker

Ab Donnerstag in den Berliner Kinos Babylon Mitte, International, Sputnik und Union

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