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Kultur: Pretiosen im Dickicht des Textes - Vor einhundert Jahren begründete Georg Dehio den Band

Er ist 1480 Seiten stark und bringt 955 Gramm auf die Waage. Der 1998 in neuer Bearbeitung erschienene Band "Thüringen" des Handbuchs der Deutschen Kunstdenkmäler verursacht bei Besichtigungstouren eine enorme Beule in der Jackentasche und beschwert solchermaßen die Mühen des Kunstgenusses mit einer eindeutig physischen Komponente.

Er ist 1480 Seiten stark und bringt 955 Gramm auf die Waage. Der 1998 in neuer Bearbeitung erschienene Band "Thüringen" des Handbuchs der Deutschen Kunstdenkmäler verursacht bei Besichtigungstouren eine enorme Beule in der Jackentasche und beschwert solchermaßen die Mühen des Kunstgenusses mit einer eindeutig physischen Komponente. Der "Erfinder" des Handbuchs, der Kunsthistoriker Georg Dehio (1850-1932), hatte anderes im Sinn, als er vor genau 100 Jahren forderte, ein solches Werk müsse "wenig voluminös, leicht transportabel, in seiner inneren Einrichtung so übersichtlich wie möglich, ebenso bequem auf dem Schreibtisch wie auf der Reise zu benutzen sein".

Dehio, damals Ordinarius an der Reichsuniversität Straßburg, schwebte nichts Geringeres vor als die Verbindung der wissenschaftlichen Präzision eines Denkmalinventars mit der prononcierten Auswahl eines historisch orientierten Reiseführers. In beiden Gattungen gab es erfolgreiche Vorläufer: Legendär sind die braunen Bändchen der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Karl Baedeker begründeten Taschenbuchreihe, die sich im Zeitalter des beginnenden Massentourismus an ein breites bürgerliches Publikum wandten. Andererseits gab es die topographischen Denkmalverzeichnisse, deren Verfasser für die Gemeinde der Kunstgelehrten - also ihresgleichen - Informationen über historische Gebäude, ortsfeste Skulpturen und Gemälde zusammentrugen. Die in den deutschen Bundestaaten organisierte Denkmalpflege hatte bis 1900 die systematische Inventarisierung in Denkmallisten mit höchst unterschiedlichem Erfolg vorangetrieben.

Mit dem bahnbrechenden Konzept, eine qualitative Auswahl aus dem Denkmalbestand des deutschen Sprachraums dem gebildeten Publikum zu präsentieren zu bewerten, gewann Dehio die Unterstützung renommierter Universitätskollegen und Denkmalpfleger. So gilt der erste "Tag für Denkmalpflege", der 1900 in Dresden stattfand und auf dem Dehios Denkschrift diskutiert wurde, als Geburtsstunde des Handbuchs. Die kontinuierliche Erarbeitung konnte jedoch erst 1904 durch einen üppigen Zuschuss aus dem Dispositionsfonds Wilhelms II. gesichert werden. Der Kaiser würdigte die nationale Bedeutung des Projekts jenseits aller Partikularinteressen der "Herren Provinzialkonservatoren".

Zwischen 1905 und 1912 erschien bei Ernst Wasmuth die fünfbändige Urfassung des Buches, dessen vielfach bearbeitete Neuauflagen als "der Dehio" zum Standardwerk geworden sind. Dehio selbst hatte etliche mit seiner Sigle D. unterzeichnete Artikel geliefert. Neben Highlights mittelalterlicher Kunst sind es die Kommentare zu Architektur und Raumkunst des Barock, die den Rang dieser Beiträge verdeutlichen. Im alphabetisch nach Ortsnamen gegliederten Dickicht des Textes leuchten zwischen nüchternen Beschreibungen von Planungs- und Baugeschichte, Grundrissen und Fassadengestaltung die stilistisch brillanten Analysen Dehios wie Pretiosen. Der Historiker wird zum poetischen Sprachbildner, wenn er etwa die von Dominicus Zimmermann erdachte Ausstattung der Wieskirche mit Akkorden höfischer Musik vergleicht, um die kompositorische Raffinesse ihres Ensemblecharakters zu unterstreichen.

Mit der allenthalben spürbaren Persönlichkeit Dehios erklärt sich die Qualität. Im Zwang zur Aktualisierung liegt die Crux des Textes. Nach Abschluss der ersten Auflage widmete sich der 64jährige ab 1914 vorrangig seiner "Geschichte der deutschen Kunst", dem nach Kriegsende publiziertem Opus magnum. Dessen drei Textbände lesen sich wie der kulturhistorische Überbau des Dehio-Handbuchs. In den drei Tafelbänden der Kunstgeschichte wird geboten, was das Handbuch dem Leser bis heute versagt; die für das Verständnis von Architektur so nötigen Abbildungen und Wandaufrisse. Dennoch macht der Vergleich deutlich, warum Dehios Kunstgeschichte nahezu vergessen, "sein" Handbuch immer noch ein Klassiker ist: idealistische Ideengeschichte versus brillant präsentierte Grundlagenforschung.

Dass sich der Textumfang des Handbuchs wenigstens verfünffacht hat, ist nicht allein den heutigen Autoren oder dem seit über sieben Jahrzehnten zuständigen Deutschen Kunstverlag anzulasten. Dehio selbst hatte Lücken akzeptiert, die erst spätere Auflagen schlossen. Entscheidend ist jedoch die umfassende Erweiterung unseres Denkmalbegriffs. War für Dehio noch das Werk Schinkels ein zeitlicher Grenzfall, nimmt man heute Bauten der 60er Jahre auf (im neuen Dehio "Berlin" wird, wie zu hören ist, selbst Liebeskinds Jüdisches Museum erwähnt). Neben Sakralbauten und Schlösser sind Fabriken, Stadien und Staudämme getreten. Angesichts dieser Vielfalt und sich wandelnder Bewertungskriterien stellt sich zweifellos die Frage, wie ein nicht eben benutzerfreundliches Nachschlagewerk in Buchform im heutigen Jahrmarkt der Informationen bestehen kann. Ein neuer Georg Dehio ist kaum in Sicht, doch die angestammten Qualitäten "des Dehio" - seriöse Information und individuelle Urteilsfähigkeit - wären nach wie vor gefragt.Dehio-Vereinigung und Deutscher Kunstverlag stellen heute um 19 Uhr im Ägyptischen Museum eine Festschrift zum 150. Geburtstag Dehios und dem 100. Jubiläum des Handbuchs der Deutschen Kunstdenkmäler vor.

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