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Kultur: Prospero im Freudenhaus

„Erinnerung an meine traurigen Huren“: Nach zehn Jahren ein neuer Roman von GabrielGarcíaMárquez

Seit dem epochalen Erfolg von „Hundert Jahre Einsamkeit“ hat der Kolumbianer Gabriel García Márquez den Rang eines Zauberkünstlers, eines Prospero unter den Erzählern – ein Image, das den realistischen Teil seines Werks überschattet und sich mit einer solchen Hartnäckigkeit an den Bestseller von 1967 klammert, dass es dessen exzeptionelle Bedeutung im Zusammenhang des Gesamtwerks fast schon wieder in Abrede stellt.

Die geringe Beachtung, die seinen frühen Romanen und Erzählungen zuteil geworden ist, erzeugte eine regelrechte Aversion gegen seine mythendurchwobenen Konstruktionen, die er vor allem deswegen ersonnen und ausgearbeitet hatte, weil er die ignorante Kritik und das unaufmerksame Publikum frappieren wollte. Der Plan ging auf. In einem Umfang, den niemand für möglich gehalten hätte, auch der Autor nicht. Er wurde nun plötzlich zum Mittelpunkt einer Literatur, die bis dahin lediglich periphere öffentliche Bedeutung gehabt hatte – ungeachtet der Tatsache, dass ihr bereits Meisterwerke globalen Zuschnitts gelungen waren.

Bei García Márquez ist die Kurve seines Ruhmes seit fast vier Jahrzehnten quasi linear verlaufen. Zwar rutschte sie bei seinem Lieblingsbuch „Der Herbst des Patriarchen“ ein wenig ab. Dafür zog sie aber mit „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ wieder in die Höhen begeisterter Lesergunst. Der neue Roman „Memoria de mis putas tristes“ („Erinnerung an meine traurigen Huren“) ist in den spanischsprachigen Ländern mit einer Startauflage von einer Million Exemplaren erschienen – ein offenbar risikoloses Wagnis, das den deutschen Verlag von García Márquez veranlasst hat, dem Original immerhin mit 200000 Exemplaren zu folgen.

„Erinnerung an meine traurigen Huren“ ist eigentlich kein Roman, auch kein Kurzroman, sondern eine längere Geschichte, groß gedruckt und zeilenmäßig luftig aufbereitet, so dass, bei aller lockeren Art der Präsentation, immerhin ein Buch von 160 Seiten entstanden ist. Die Erzählung, kompositorisch leider etwas unscharf, entfaltet kein so breites Panorama wie der süffige Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ von 1985, und sie tastet sich auch nicht in das geschichtlich-mythische Halbdunkel des auf eine gewisse Schauerlichkeit angelegten Romans „Von der Liebe und anderen Dämonen“ aus dem Jahr 1994 zurück. „Erinnerung an meine traurigen Huren“ ist eine simple Story eines 90-jährigen Mannes, der sich seines Noch-am-Leben-Seins dadurch zu versichern versucht, dass er von einer Puffmutter, die er seit Urzeiten kennt, ein frisches, noch jungfräuliches Mädchen auftreiben lässt, das ihm mehr bedeutet als alle Prostituierten vergangener Tage.

Das Ganze wirkt weniger frivol als überspannt, und man könnte auf die Idee kommen, dass der Autor sich mit dieser novela, die mit „Mai 2004“ datiert ist, nur etwas Abwechslung verschaffen wollte bei der Niederschrift seiner – erklärtermaßen auf sechs bis acht Bände angelegten – Autobiografie, deren erster, weit ausgeuferter Teil „Leben, um davon zu erzählen“ 2002 erschienen ist.

Auch jener faktenreiche Rechenschaftsbericht war, ähnlich wie zuvor schon „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“, mit einer gewaltigen Kampagne erschienen, und – Werbehilfe von Seiten der südamerikanischen Unterwelt! – ein ganzer Lastwagen mit Exemplaren der millionenstarken Erstauflage wurde von Banditen in dem kolumbianischen Provinzstädtchen La Tabaida gestohlen. Diese Räuberpistole war noch verkaufsfördernder als der illustre Name des Nobelpreisträgers oder die in „El País“ veröffentlichte Vorabnachricht, dass der Buchkonzern Random House Mondadori zum Preis von mehreren Millionen Euro die Rechte für den spanischen und spanisch-amerikanischen Markt ersteigert habe.

Den Erfahrungshintergrund der neuen Erzählung bildet das Milieu des Nuttenhotels in Baranquilla, in dem der angehende Schriftsteller García Márquez in jungen Jahren wohnte, weil er dort eine billige Unterkunft hatte und ungestört schreiben und schlafen konnte. Der Greis, den er nun in seinem Roman schildert, gerät schemenhafter und diffuser als die Stadt, in der er lebt und die – alt, morbid und bevölkert von den absonderlichsten Menschen – jene postkoloniale Atmosphäre spürbar werden lässt, die das Kolorit von García Márquez’ Mikrokosmos bilden.

Die Art, wie der Autor die Zeit ins Zeitlose taucht, das Existierende ins Vergängliche, das Gestern ins Vorgestern, und wie alles zusammen zu einem Mythos des Ewigen, Unwiederbringlich-Schönen gerinnt – das macht die Poesie dieses Flunkerers aus, der, indem er lügt, die Wahrheit erzählt... eine elegische Wahrheit, die kein psychisches Interieur so gut abzubilden vermag wie die Topographie eines Ortes, etwa die des noblen Zeitungshauses, für das der Protagonist Kolumnen liefert: „Im Vestibül hingen , wie tote Vizekönige, die Ölporträts der drei Direktoren auf Lebenszeit, daneben Fotos von berühmten Gästen. Den riesigen Saal beherrscht das gigantisch vergrößerte Foto der jetzigen Redaktion, das an meinem Geburtstag aufgenommen worden war. Unweigerlich stellte sich gedanklich der Vergleich mit der Aufnahme aus meinen Dreißigern ein, und wieder einmal bemerkte ich mit Grauen, dass man auf Bildern stärker und übler altert als in der Realität.“

Der heute 76-jährige García Márquez, der 1992 wegen eines Lungentumors operiert werden musste, weiß allzu gut, dass es Thanatos ist, der seinen welken Liebenden so besessen zu Eros hin drängt. Sein Bordellgänger und Lebemann ist ein Todeskandidat. Doch die zwölf Glockenschläge um Mitternacht verklingen, ohne dass sein Leben auslöscht – da weiß er, dass er seine „neunzig Jahre gesund und munter überlebt“ hat. Der Tod, „das einzige endgültige Alter“, ist bei noch relativ guter körperlicher Verfassung nicht leicht zu erreichen.

„Erinnerung an meine traurigen Huren“ ist von geringer stofflicher Mitteilsamkeit, und es besitzt auch nicht die poetische Dichte, die „Der Herbst des Patriarchen“ zu einem Kunstwerk von stupender Einmaligkeit macht. Der Wert dieses Buchs ist von eher parabolischer Art. Wir erfahren, was wir eigentlich schon wussten, Dinge wie: „Was du auch tust, in diesem Jahr oder in hundert Jahren wirst du für immer tot sein.“ Oder: „Die Welt schreitet voran. (...) aber sie dreht dabei Kreise um die Sonne.“

García Márquez, dieser eminent politische Autor, hat sich in seinem epischen Werk ein Refugium geschaffen: einen sich ins Rückwärtige auftuenden Raum. In seinem Simón Bolívar huldigenden Roman „Der General in seinem Labyrinth“ versteckt er sich gleichsam vor der Moderne und ihren depersonalisierenden Strukturen. Bolivars Worte „Wer sich einer Revolution verschreibt, pflügt bloß das Meer“ sind zwar die bittere Bilanz eines ursprünglich ins Zukünftig-Offene gerichteten Lebens, sie werden aber noch vor einer geschichtlichen Kulisse gesprochen, die nicht so abstrakt und abgeblättert ist wie der heutige Welthintergrund, der dem Individuum keinen Platz mehr lässt zum Ausbilden eines persönlichen Geschicks.

Die Kluft, die García Márquez mittlerweile von seinen Ursprüngen trennt, lässt das Kolorit verbleichen und den Vorrat an Erinnerungsbildern schrumpfen. Das und die Last der eigenen Jahre bewirken einen Reduktionsprozess, der seinen letzten Büchern manches von ihrer Leuchtkraft nimmt.

Gabriel García Márquez: Erinnerung an meine traurigen Huren. Roman. Aus dem Span. von Dagmar Ploetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 160 S., 16,90 €.

Hans-Jürgen Heise, Jahrgang 1930, lebt als Schriftsteller in Kiel. Zuletzt erschien „Die Zeit kriegt Zifferblatt und Zeiger“ im Wallstein Verlag (2003).

Hans-Jürgen Heise

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