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Tage des Zorns. Demonstranten am 20. Juni vor dem Itamaraty-Palast, dem Außenministerium in Brasília. Foto: Reuters

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Proteste in Brasilien: Im Reich der 39 Ministerien

Warum nur, Brasilien, warum? Unser Autor hat sich Fragen zu einem aufgewühlten Land gestellt - und auch gleich selbst beantwortet

Welcher Teufel ist bloß in die Brasilianer gefahren, dass die jetzt plötzlich auf die Straße gehen? Dieses fröhliche Strandvolk, diese ausgelassenen Sambatänzerinnen, diese angefressenen Fußballfans?

Das ist eine gute Frage.

Warum sind sie nicht längst auf die Straße gegangen?

Das ist die bessere Frage.

Protestierten die Brasilianer nie?

Lange Jahre der Sklaverei und der Militärdiktatur haben ihre Spuren hinterlassen. Immerhin gingen im März dieses Jahres einige tausend Brasilianer auf die Straße, um gegen den neuen Senatspräsidenten Renan Calheiros zu lärmen.

Wer ist Renan Calheiros?

Das ist der Mann, der 2007 aus dem Senat zurücktreten musste, weil herausgekommen war, dass ein großes Bauunternehmen die teure Wohnung seiner Geliebten bezahlte.

Weshalb ist er trotzdem Senatspräsident geworden?

Weil seine Partei ein Koalitionspartner von Staatspräsidentin Dilma Rousseff ist.

Kann die Regierungspartei PT, die Partei der Arbeiter, nicht alleine regieren?

Dilma Rousseff regiert mit einer Koalition aus vielen Parteien, und deshalb muss sie auch viele Ministerien unterhalten, die große Aufträge vergeben. Der Fischereiminister zum Beispiel ist ein Evangelikaler. Seit er Minister ist, treten die Funktionäre von Fischergewerkschaften, die staatliche Unterstützung erhalten (oder erhalten wollen), reihenweise in seine evangelikale Partei ein.

Wie viele Ministerien gibt es?

In Deutschland sind es 14, in Brasilien gibt es 39. Böse Zungen behaupten, es seien nur deshalb nicht 40, weil sich sonst das ganze Land an Ali Baba erinnert fühlte und seine 40 Räuber.

Weshalb unterstützt die Regierung Gewerkschaften?

Sie unterstützt Gewerkschaften ebenso wie die Landlosenbewegung und Menschenrechtsorganisationen, um sich den Rücken freizuhalten von Massendemonstrationen und Straßenprotesten.

Wieso sollten die Menschen demonstrieren, ist nicht Ex-Präsident Lula der populärste Politiker des Planeten, der 30 bis 40 Millionen Menschen aus der Armut befreite?

In der Amtszeit von Präsident Lula vervierfachten sich die Rohstoffpreise. Als guter Politiker schrieb Lula den wirtschaftlichen Boom den eigenen Verdiensten zu. Sein Sozialhilfeprogramm machte ihn so populär, dass er seine Nachfolgerin praktisch alleine bestimmen konnte. Aber die hat jetzt Probleme mit genau diesen Menschen, die den Status der Armut verlassen haben.

Ist Rousseff die schlechtere Politikerin?

Der Rohstoffhunger Chinas ließ nach. Gegen die globale Wirtschaftskrise kannte die Präsidentin nur ein Rezept: den Staatsapparat aufblähen, die Ausgaben erhöhen, den Konsum fördern. Die neue untere Mittelschicht kaufte, was das Zeug hielt, und alles auf Pump. Jetzt, wo die Wirtschaft stockt und die Inflation steigt, haben die Leute wieder Mühe, das Ende des Monats mit einem gedeckten Tisch zu erreichen.

Gehen sie auf die Straße, weil die Buspreise erhöht wurden?

Die Leute gehen auf die Straße, weil sie nicht weiterkommen. Sie konnten sich einen Fernseher kaufen, einen Kühlschrank, ein Handy, sie haben zwei Jobs angenommen, sie haben sich an Abendkursen eingeschrieben, und jetzt stellen sie fest, dass sie in der Dritten Welt stecken bleiben. Ihre Spitäler sind lausig, die Schulen schlecht, der Transport teuer und unzuverlässig. Derweil verkündet die Regierung froh, Brasilien sei in der Ersten Welt angekommen.

Im politischen System Brasiliens überleben archaische und mittelalterliche Strukturen

Tage des Zorns. Demonstranten am 20. Juni vor dem Itamaraty-Palast, dem Außenministerium in Brasília. Foto: Reuters
Tage des Zorns. Demonstranten am 20. Juni vor dem Itamaraty-Palast, dem Außenministerium in Brasília. Foto: Reuters

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Geht es den Brasilianern tatsächlich nicht besser?

An den riesigen sozialen Unterschieden hat sich kaum etwas verändert. Die Teuerung, von der Regierung nur nachlässig bekämpft, trifft die untersten Einkommen am stärksten. Und die nehmen jetzt auch wahr, dass es Leute gibt, denen es sehr viel besser geht. Deshalb sind in den Protesten auch Wut und Hass spürbar.

Woran hat sich die Explosion entzündet?

Daran, dass im politischen System Brasiliens archaische und mittelalterliche Strukturen überleben. Faktisch wird Brasilien von einer Koalition aus Feudalherren aus dem Nordosten und Gewerkschaftsbossen aus Sao Paulo regiert. Daneben gibt es mächtige Korporationen. Die Polizei ist eine davon. Nach einer zahlenmäßig bescheidenen ersten Demonstration gegen die Erhöhung der Bustickets in Sao Paulo, bei der einige ihrer Leute verletzt wurden, folgte die Rache der Polizei. Am anderen Tag vermöbelten Eliteeinheiten Demonstranten, schossen mit Gummigeschossen auf Journalisten. Als wäre es ein Bandenkrieg. Die Gewalt löste eine Welle der Solidarität aus, vor allem bei jungen Menschen, die nicht ins Parteiensystem integriert sind und sich rasch über soziale Netzwerke organisieren.

Was haben die Fußballstadien mit den Protesten zu tun?

Die Stadien machen sichtbar, was, den staatlichen Institutionen außer der Ineffizienz sonst noch angelastet wird: Korruption, Verschwendungssucht, Vetternwirtschaft.

Ist die Fifa schuld an überteuerten Stadien?

Es war die brasilianische Regierung, die zwölf Austragungsorte wollte statt bloß acht. Jetzt gibt es in der Hauptstadt Brasilia ein Stadion für 72 000 Zuschauer – und keinen Verein, der es je füllen kann. Dafür sind die Bauunternehmer zufrieden. Sie sind die größten Wahlkampfspender.

Wird die Korruption nicht bekämpft?

Staatsanwälte und Journalisten decken immer wieder gravierende Fälle auf. Aber dieser mafiöse Geschäftemacher, der zu 39 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er im Dienste großer Unternehmen ein ganzes Spionage- und Korruptionssystem aufgezogen hatte, befindet sich immer noch auf freiem Fuß. Ebenso die Spitzenpolitiker der Regierungspartei, die zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, weil sie die Stimmen oppositioneller Abgeordneter gekauft hatten. Die Reichen und Mächtigen finden im elitären Justizsystem des Landes fast immer ein Schlupfloch. Auch deshalb haben sich die Proteste zu einem Aufstand gegen die politische Klasse entwickelt.

Was macht die Regierung?

Sie ist ratlos. Die Partei der Arbeit hat sich alles schön zurechtgelegt für die reibungslose Wiederwahl 2014: den Armen Almosen und Fußball, den politischen Freunden einträgliche Posten, der alte Geldadel eingebunden, die Gewerkschaften gekauft – so konnte es weitergehen. Aber jetzt ist ein Mitspieler hinzugekommen, mit dem sie nie gerechnet hat – die Straße.

Wird sich mit ihr etwas ändern?

Auch die Kommentatoren sind perplex und ratlos.

Sonst noch Fragen?

Eine Frage an Aline, Putzfrau in einem vornehmen Stadtteil von Rio de Janeiro, täglich vier Stunden Busfahrt: Warum gehst du heute auf die Demo, obwohl der Präfekt die Erhöhung der Bustarife bereits rückgängig gemacht hat? „Weil ich meine Kinder, wenn sie krank werden, nicht ins Fußballstadion bringen kann.“

Ruedi Leuthold

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