zum Hauptinhalt
Polizei und Feuerwehr vor einem Gebäude, das während der Proteste anlässlich des Todes von Freddie Gray in Baltimore am 27. April Feuer fing.

© dpa

Proteste zum Tode von Freddie Gray: Flammen über Baltimore

Flammender Zorn wütet in Baltimore. Ein Schwarzer getötet von Polizisten. Schon wieder. Doch Rassismus ist nur ein Thema. Die Industrieruine, die Failed City, im Osten der USA erzählt von Tagen ohne Hoffnung mit der Stimme von Randy Newmans: „Oh Baltimore / Man it’s hard just to live“.

Baltimore brennt. Nach dem Tod eines 25-jährigen Afroamerikaners in Polizeigewahrsam, der nie einen festen Job hatte und wegen Drogendelikten vorbestraft war, befand sich die Stadt drei Tage lang im Aufruhr. Polizisten wurden attackiert, Geschäfte geplündert, Feuer gelegt. Die Nationalgarde schickte Truppen, eine nächtliche Ausgangssperre gilt weiter. Das war kein kommender Aufstand. Sondern ein höchst realer Ausbruch destruktiver Gewalt.

Die Fiktion scheint Wirklichkeit geworden zu sein, aber die Wirklichkeit übertrifft die Fiktion. Was Teil der Abendnachrichten geworden ist, kennen viele bereits aus „The Wire“. In der bis 2008 vom Sender HBO produzierten Serie werden große Teile des Stadtzentrums von Baltimore von Gangs beherrscht. Selbst moderne Überwachungstechniken – „Wire“ steht für Kabel und für Abhörgeräte – bleiben machtlos gegenüber den Hierachien der Kriminellen, die von den Heroin- und Koksverkäufern on the corner bis zum Boss reichen, der Befehle am liebsten unter freiem Himmel erteilt, dort, wohin kein Richtmikrofon reicht.

Die hässliche Schwester der Hauptstadt Washington – eine Industrieruine

Baltimore, Industrieruine mit 620 000 Einwohnern und hässliche Schwester der Hauptstadt Washington, ist das Pendant eines failed state, ein gescheitertes Gemeinwesen. Die Cops trauen sich – in „The Wire“, vielleicht auch im Leben – nur zu bestimmten Zeiten in die Innenstadtbezirke, die aussehen, als ob ein Bürgerkrieg in ihnen stattgefunden hat. Manchmal werden ihre Autos angegriffen, manchmal auch angezündet.

Nur mit einer Wut-Revolution hat das wenig zu tun. Die Explosion von Gewalt in dieser Woche war ein Aufschrei gegen die Perspektivlosigkeit der Inner-City-Bewohner und gegen die Tatsache, dass wieder ein Afroamerikaner Opfer der Polizeigewalt wurde. Der Unterwelt dagegen geht es immer nur um Drogen und Geld.

„Hier, im Rust Belt Amerikas, in dem schon lange kaum noch Massenproduktion stattfand, war die Fabrikation von Kummer eine Wachstumsindustrie geworden“, schreibt „The Wire“-Schöpfer David Simon. Der ehemalige Reporter der „Baltimore Sun“ hatte als „Polizisten-Praktikant“ ein Jahr lang die Ermittler einer Mordkommission begleitet. In einigen Bezirken der Stadt, sagt er, gibt es nur eine Möglichkeit, Arbeit zu bekommen: in der Drogenbranche.

Eine Hassliebeserklärung an eine Stadt, „die stirbt und nicht weiß, warum“

Trost? Findet sich am ehesten in der Musik. „Oh Baltimore / Man it’s hard just to live“, seufzt Randy Newman mit zerknautscher Stimme, dazu schwelgen Synthesizer. Seine so sarkastische wie sentimentale Hymne ist eine Hassliebeserklärung an eine Stadt, „die stirbt und nicht weiß, warum“. In dem Lied, das 1977 erschien, sind sie alle schon da, die kriminellen Eckensteher, die Besoffenen in der Gosse, all die Betrübten, Verbitterten und Beladenen. Baltimore, die Hafenstadt am Atlantik, ist zur Endstation geworden. Das Meer verheißt nicht länger Freiheit. Es ist zur Barriere geworden. Dort angekommen, weiß niemand mehr, wohin er noch fliehen könnte. „Baltimore“ gehört zu Randy Newmans traurig-trotzigsten und herzergreifendsten Songs. Und damit zurück zu den Fernsehnachrichten.

Zur Startseite