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Regisseur Milo Rau im Sacharow-Zentrum Moskau.

© dpa

Pussy Riot: Alle können mitreden

Der Schweizer Regisseur Milo Rau stellt in Moskau drei Gerichtsprozesse gegen russische Künstler nach. Teilweise wirken dabei die echten Beteiligten mit. Als erstes standen die Pussy-Riot-Verhandlungen auf dem Programm.

Im Grunde sei das eine völlig surreale Situation, sagt der Künstler Dmitry Gutov und schaut durch seine Brillengläser ins Publikum: Dass sich hier tatsächlich einander spinnefeinde Kontrahenten zusammengefunden hätten, um drei Tage lang auf engstem Raum ernsthaft Argumente auszutauschen! Das wahre Leben brächte solche Konstellationen eher nicht zustande.

Die Kontrahenten heißen, in aller Kürze, „Kunst“ versus „Religion“. Und Gutov, mit Documenta- und Venedig-Biennalen-Weihen, steht in einem überfüllten Raum im Moskauer Sacharow-Zentrum, wo er sich vor sechs Jahren an der Ausstellung „Verbotene Kunst“ beteiligt hatte: Einer Schau mit Werken, die wegen ihres politischen bzw. vermeintlich blasphemischen Gehalts zensiert und aus anderen Museen entfernt worden waren. Die Organisatoren der Ausstellung wurden seinerzeit in einem Gerichtsprozess abgestraft.

Jetzt steht Dmitry Gutov hier als Protagonist eines dokumentarischen Theaterprojekts im Zeugenstand und sieht mit seinem orangefarbenen Outdoor-Trikot aus, als habe er den Weg durch den grauen Moskauer Schneeregen tatsächlich mit dem Fahrrad zurückgelegt. Der 36-jährige Schweizer Regisseur Milo Rau – ein Spezialist für brisante politische Sujets, der mit seinem Ruanda-Abend „Hate Radio“ zum letzten Theatertreffen eingeladen war – hat am Ort des Geschehens einen Gerichtssaal aufgebaut und am Freitagabend begonnen, insgesamt drei reale Strafprozesse der nuller Jahre gegen russische Künstler neu aufzurollen. Neben der „Verbotene Kunst“-Schau und einer weiteren religionskritischen Ausstellung des Sacharow-Zentrums steht natürlich auch der Fall Pussy Riot auf dem Programm. Und die Darsteller von Raus dreitägiger Gerichtsshow „Die Moskauer Prozesse“, deren Titel auf die stalinistischen Schauprozesse der dreißiger Jahre rekurriert, sind eben keine Schauspieler, sondern reale Kreative, Intellektuelle, Kirchenvertreter und Anwälte – möglichst diejenigen, die in den betreffenden Verfahren tatsächlich vor Gericht standen.

Heute wird das Pussy-Riot-Mitglied Jekaterina Samuzewitsch auftreten, die einzige der drei Punk-Aktivistinnen, die nach dem kirchen- und regierungskritischen Kurzauftritt der Band letztes Jahr in der Moskauer Erlöserkathedrale auf Bewährung freikam. Während ihre Kolleginnen zurzeit eine zweijährige Straflagerhaft verbüßen, nehme sie an Raus Prozessen teil, um darüber zu diskutieren, wie es um das Recht auf freie Meinungsäußerung in Russland bestellt sei. Diese Botschaft ließ Samuzewitsch dem Theater- gericht am ersten Prozesstag schon einmal schriftlichem übermitteln. Und dass sie es gut heiße, dass hier tatsächlich beide Seiten frei zu Wort kommen.

Um diesen Punkt geht es Rau: Er will sein Theater nicht als moralische Anstalt mit programmierter Botschaft verstanden wissen, sondern möglichst viele konträre Stimmen versammeln, um tatsächlich einen offenen Diskurs anzuzetteln. Neben Samuzewitsch treten auch ranghohe Repräsentanten der Staatsdoktrin auf – weshalb Rau auch weiterhin keine Störaktionen der Veranstaltung befürchtet. „Wir haben wirklich alle eingeladen“, sagt er. Dass dem Angebot zumindest am ersten Tag eher die dissidente Seite sowie die internationale Korrespondentenschaft gefolgt zu sein scheint denn die einheimische Presse, könnte sich ja noch ändern. Am Ende wird eine siebenköpfige Schöffen-Jury, die Rau per Zufallprinzip aus Moskauer Bürgern ausgewählt hat, ihr Urteil sprechen. Christine Wahl

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