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Kultur: Putin in Berlin: Mann spricht deutsch

Darf man den euphorischen Kommentaren, darf man den Fernsehbildern glauben? Dann hat der Deutsche Bundestag kulturell Erstaunliches geleistet: Er hat sich zur Bühne für das internationale coming out eines Stars gemacht.

Darf man den euphorischen Kommentaren, darf man den Fernsehbildern glauben? Dann hat der Deutsche Bundestag kulturell Erstaunliches geleistet: Er hat sich zur Bühne für das internationale coming out eines Stars gemacht. Selbst Menschen, die sich sonst kaum für Außenpolitik interessieren, fragten auf einmal mit glänzenden Augen: Haben Sie die Rede gesehen?

Die Resonanz, die Wladimir Putin bei seinem zweiten Deutschlandbesuch findet, reicht an die Gorbimania heran: die Bewunderung, ja Zuneigung für den neuen Mann aus Russland, der 1985 an die Spitze trat und so ganz anders war als die sowjetischen Apparatschiks, die das Bild der UdSSR bis dahin geprägt hatten.

Zum Thema Hintergrund: Russische Präsidenten und deutsche Kanzler Foto-Tour: Putins Staatsbesuch in Bildern Und nun steht da am Dienstag ein jung und bescheiden auftretender Mann am Rednerpult unter dem Bundesadler, erweist in einem glänzenden und sehr kultivierten Deutsch der Sprache Goethes, Schillers und Kants seine Reverenz. Er kann schmeicheln, aber auch witzig sein, er wirft dem Publikum bisweilen kokette Blicke zu wie ein Mädchen. Der Kalte Krieg ist zu Ende - nur die Politiker scheinen noch nicht mutig genug, die Partnerschaft, die sie in ihren Reden fordern, im Alltag zu realisieren. Putin fordert ja gar nichts vehement - er fragt doch nur: Ist es richtig, dass wichtige Entscheidungen ohne uns Russen getroffen werden, aber wir im UN-Sicherheitsrat alles absegnen sollen? Ist das Kooperation, wenn wir nicht einbezogen werden?

So einem möchte man doch vertrauen. Auch er ist ein neuer Mann. So ganz anders als sein Vorgänger: der poltrige Boris Jelzin, der großen Mut bewiesen hatte im Kampf gegen den Putsch, aber in Physignomie und Auftreten nie seine Herkunft aus der Nomenklatura verleugnen konnte. Der Putin im Bundestag setzt sich jedoch nicht nur von Jelzin ab - sondern auch von jenem Putin, den Deutschland zu kennen glaubte. Der "Deutsche im Kreml" war er von Anfang an - und seine ungewöhnliche Sprachkenntnis bereitete ihm schon früher den Weg zu deutschen Politikern und Bürgern. Aber er galt auch als kalt, gefühlsarm, berechnend. Alles in allem: das moderne, das fernsehtaugliche Gesicht der Diktatur. Putins schmutziger Krieg im Kaukasus, die Bedrohung der Pressefreiheit, die Beschneidung der Parlamentsrechte, das Vorgehen gegen Industriemagnaten, die sich nicht unterordnen wollten: Diese Seiten des Autokraten konnte man für kurze Momente der Harmonie vergessen. Sie waren aber nicht dauerhaft wegzudenken.

Und nun? Von Tschetschenien wird kaum noch gesprochen, von Rechtsunsicherheit und Demokratiedefiziten immer weniger. Denn Russland wird jetzt gebraucht: als Partner in der weltweiten Koalition gegen den Terrorismus. Das ist die politisch-analytische Seite. Mir ihr korrespondieren emotionale Bedürfnisse, gerade jetzt.

Fast von Ewigkeitswert - und ein verlässlicher Auslöser von Kopfschütteln bei westlichen Partnern - ist die Faszination, die die russische Seele und das große Herz der Russen auf viele Deutsche ausüben. Übrigens eine gegenseitige Faszination. Eben weil deutscher Geist und deutsche Technik in Russland als Vorbild gelten, gehören sie dort zum Bildungskanon. Und wenn dann Russen hierzulande mit Kenntnissen deutscher Kultur und Geschichte auftreten, die vielen Deutschen fehlen, verstärkt das wiederum Bewunderung und Respekt für die Gäste.

So war es schon, als nach 1945 mit der sowjetischen Armee auch hoch gebildete Besatzungsoffiziere nach Ostdeutschland kamen. In manchen Gebäuden Ost-Berlins, etwa an der Saaldecke des Palais am Kupergraben, kann man die Heiligen-Galerie dieser geistigen Sonderbeziehung bis heute finden: Goethe, Schiller, Lomonossow, Gorkij, Tschaikowsky undundund ...

Diese Grundströmung wird unter dem Eindruck der Anschläge in den USA verstärkt. Jetzt, wo wir uns der Verwundbarkeit der westlichen Zivilisation bewusst werden, sollen die kleineren Konflikte und Rivalitäten zurücktreten, denn wir wünschen uns Harmonie und Schulterschluss.

Und genau da kommt dieser neue Mann aus Russland. Für das Ziel, das er jetzt hat - nämlich nicht fordernd, sondern schmeichelnd für die ehrliche Einbindung Russlands zu werben - ist das Bild, das bisher von ihm in Deutschland gezeichnet wurde, kein Schaden. Im Gegenteil, es erleichtert ihm die Inszenierung. Gerade weil er als kühl galt, wirkt bereits ein Augenaufschlag wie eine große Geste - und ein Lächeln wie eine Umarmung.

Die einfachen Russen haben ihn längst angenommen, ja in ihrer großen Zahl vielleicht sogar ins Herz geschlossen. Weil er so schmal und bescheiden wirkt, weil er nicht im Verdacht steht, sich selbst zu bereichern, weil er den Anschein erweckt, sich zu kümmern und den schlimmsten Missständen abzuhelfen.

Zu so einem möchten auch viele Deutsche Du sagen - ist das nicht verständlich? Oder sollte man gerade jetzt nüchtern reagieren? Und weiter Sie sagen zu Putin, zu Russland. Analysieren, was in der Substanz neu ist - und was nur Inszenierung.

Wladimir Putin hat eine große Rede gehalten. Er hat Eindruck gemacht, nicht nur auf die politische Klasse, sondern weit in die Gesellschaft hinein. Was aber wird davon in den kommenden Monaten und Jahren an politischer Substanz bleiben? Wenn Interessengegensätze und Rivalitäten nicht mehr hinter der heute alles verdrängenden Bedrohung durch den Terror verschwinden, wenn wieder nach Demokratie und Menschenrechten gefragt wird, wenn es um eine für alle Seiten akzeptable Friedensordnung in Europa geht, die ja nicht im völligen Verzicht auf Erweiterung der EU und der Nato bestehen kann. Möglich, dass die Deutschen dann einmal mehr die Kluft erkennen müssen, die sich auftut zwischen einer ersehnten, tief empfundenen Seelenverwandtschaft und der Durchsetzung politischer Interessen.

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