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Der Kreml hinter roten Mauern in Moskau

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Putins Machtsitz: "Der Kreml ist das Zentrum eines Staates"

Für die britische Historikerin Catherine Merridale ist der Kreml mehr als eine Festung. Und Wladimir Putin regiert darin mit sicherem Gespür für den Palast und sein Land - einer jahrhundertealten Tradition folgend. Ein Gespräch.

Frau Professor Merridale, wenn man heute den Kreml betritt, welchen Eindruck vermittelt er?
Der Kreml ist hoch über der Stadt errichtet, umgeben von roten, abweisend wirkenden Mauern. Um in ihn hineinzukommen, muss man über ein Rampe oder eine Treppe hinaufsteigen. Natürlich sind da Wächter am Tor. Aber wenn man durch das Tor durch ist, befindet man sich in einem magischen Raum. Alles wird still. Der ganze Verkehrslärm von Moskau verstummt. Man steht vor den weißen, mit reichlich Blattgold überzogenen Gebäuden und fühlt den Hauch der Geschichte. Als ich im Herbst da arbeitete, bekam ich in der frühen Morgensonne oft den Eindruck großer Helligkeit.

Über all die Jahrhunderte blieb der Kreml das Zentrum der russischen Politik. Ist es diese Kontinuität, die ihn so einzigartig macht?
Das ist ein Element seiner Besonderheit. Zwar war der Kreml nicht ununterbrochen der Sitz der Regierung. Einige Jahrhunderte lang war St. Petersburg die Hauptstadt. Aber dieses Gefühl, sich im Zentrum einer Regierung zu befinden, die 800 oder 900 Jahre zurückreicht, kann man sonst nur noch im Vatikan bekommen. Der verbindet ebenfalls politische und religiöse Macht. Man könnte vielleicht an die Verbotene Stadt in Beijing denken. Aber das ist nicht dasselbe. Und der Tower of London, der auch eine von Mauern umgebene Festung ist, fungiert nur noch als Touristenattraktion und hat keine Bedeutung mehr. So ist der Kreml etwas sehr Besonderes, ein historisches Bauwerk, das immer noch benützt wird.

Lassen sich aus dieser Kontinuität auch machtpolitische Kontinuitäten der russischen Geschichte ableiten, die bis heute bestehen?
Da ist Vorsicht geboten. Der Kreml ist nicht seit 800 oder 900 Jahren derselbe. Und die Macht ist es genauso wenig. Wenn man den Kreml anschaut, vermittelt er den Eindruck einer historisch unveränderten Sehenswürdigkeit. Aber genau das ist eine große Illusion. Mindestens zweimal in seiner Geschichte wurde er zerstört, Anfang des 17. Jahrhunderts von den polnischen Truppen und 1812 von Napoleons Soldaten, nicht zu reden von den Mongolen in früherer Zeit. Der Kreml wurde viele Male wieder aufgebaut. Wir schauen auf etwas, das sich ununterbrochen verändert. Und wenn man meint, Russland sei immer dasselbe geblieben, kann man das Russland, mit dem wir es heute zu tun haben, nicht verstehen.

Eine Frage, die sich in Europa wiederholt stellt, betrifft die Zugehörigkeit Russlands zu Asien oder zu Europa. Wie würden Sie diese Frage mit Blick auf den Kreml beantworten?
Der Kreml ist eine europäische Festung, entworfen von italienischen Architekten im besten Renaissance-Stil. Wenn Sie nach Italien fahren und Bologna besuchen, sehen Sie die Mauern des Kremls. Die meisten der markanten Gebäude des Kremls stammen von europäischen Architekten oder hatten europäische Architekten, die in dieser oder jener Phase an ihnen arbeiteten. Wir machen uns etwas vor, wenn wir den Kreml mit einer orientalischen oder asiatischen Aura umgeben. Und was in diesem Zusammenhang auch wichtig ist: Der Kreml ist ein christliches Zentrum und nicht buddhistisch, hinduistisch oder islamisch. Er ist ein Zentrum des Orthodoxen Christentums, womit er bewusst ein Statement ablegt, nicht das katholische Europa zu sein, sondern eben Russland.

1990 knüpfte man bei der Restaurierung des Kremls an das 19. Jahrhundert an. In welcher Tradition sah sich der neue russische Staat damals?
Dieser Rückgriff hatte mit dem verzweifelten Versuch zu tun, eine neue Identität zu schaffen. Als man den Kreml 1990 neu erfinden wollte, musste man zunächst den Staat neu erfinden, dessen Symbol der Kreml war. Man konnte nicht die sowjetische Vergangenheit hernehmen. Denn die war gerade in Ungnade gefallen. So musste man in der Geschichte zurückschauen. Und die attraktivste und auch die jüngste siegreiche Periode war das 19. Jahrhundert. 

Wollte man nach dem Zusammenbruch eine siegreiche Periode heraufbeschwören?
Russland war damals ein prachtvoller, wohlhabender Staat, der eine wichtige Rolle in der europäischen Politik spielte. Das 19. Jahrhundert begann mit dem russischen Sieg über Napoleon, als Zar Alexander I. an der Spitze seiner Armee in Paris einritt. Es gibt von diesen Schlachten gegen Napoleon ein riesiges Gemälde, das im Zuge der Restaurierung des Großen Kreml-Palastes an der Spitze der Zeremonientreppe aufgehängt wurde, und zwar hängte man es an diese Stelle, weil es dieselbe Größe hat wie das Gemälde von Lenin, das vordem da hing und das man abnehmen wollte. Und das Interessante daran ist, dass das Gemälde von Lenin wiederum gemalt wurde, um ein Gemälde von Alexander III. zu ersetzen. Der Kreml wird ständig neu erfunden, wobei man jedes Mal bemüht ist, ihn so aussehen zu lassen, als wäre er immer so gewesen.

Sie vergleichen den Kreml mit einem Theater. Das veranlasst zu der Frage: Welches Stück wird da gegenwärtig gespielt?
Es ist das Stück über einen starken Staat mit einem prächtigen Ansehen, der seinen rechtmäßigen Platz in Europa hat, ohne zu sehr in europäische Angelegenheiten verwickelt zu sein. Ein Staat, dessen Bevölkerung Würde besitzt, Nationalstolz, Patriotismus. Und ein Staat, an dessen Spitze eine Persönlichkeit steht, die legitimiert ist und tief verwurzelt, nicht nur in der Wählerschaft, sondern in jenem Geist des Auserkorenseins, der die Beziehung der Bevölkerung zu Russland bestimmt.

Und wie sieht es hinter den Kulissen aus? Ist Russland tatsächlich ein starker Staat?
Es kann kein besonders starker Staat sein. Russland ringt mit einer Reihe gravierender Probleme. Dazu zählen Korruption, Immigration und Kapitalflucht. Das fordert das Land heraus. Aber das war immer so. Es wurde das Bild eines starken russischen Staates vorgespielt – wie ein Schwan, der majestätisch über das Wasser gleitet, dessen Füße unter der Oberfläche aber schwer arbeiten müssen. Tatsächlich muss der russische Staat extrem hart arbeiten, um die Provinzen unter Kontrolle zu halten. Aber die Alternative zu einer starken Führung im Kreml, auch wenn es sich um den Schein einer starken Führung handelt, ist Anarchie. Das wissen die Russen. Denn Russland hatte in seiner Geschichte mehrere Zusammenbrüche. Und wer in einer solchen Situation am meisten zu leiden hat, ist nicht die Führung, sondern die Bevölkerung.

Wladimir Putin hat einen ausgeprägten Sinn für die Theatralik des Kremls.

Der Kreml in Moskau.
Die Basilius-Kathedrale und der Kreml am Roten Platz in Moskau.

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Zur Zeit rätselt man über Wladimir Putin. Man möchte wissen, was er plant und ob man einen Krieg fürchten muss. Kann man aus der Art, wie er sich im Kreml eingerichtet hat, Schlüsse auf seine Ziele und Absichten ziehen?
Gewiss kann man sehen, dass er keine scheue und bescheidene Persönlichkeit ist. Die Art, wie er vom Kreml Besitz ergriffen hat, ist sehr staatsmännisch. Er hat einen ausgeprägten Sinn für die Theatralik des Ortes, das Blattgold, die großen Säle. Auch besitzt er einen tiefen Sinn für die Geschichte und ließ eine Menge historischer Statuen und Porträts aufstellen, um die Figuren hervorzuheben, mit denen er identifiziert werden möchte. Aber er ist ein gewandter Politiker. Was immer er tut, geschieht aus unmittelbaren Motiven und nicht, weil die Geschichte ihm dies sagt.

Verrät der Kreml auch etwas über die Ukraine?
Der Kreml verkörpert nicht den Geist von Kiew. Denn er gründet auf Wladimir Putin im Nordosten und nicht auf Kiew. Aber die Periode, als der Kreml sich zu modernisieren begann und nach Europa wandte, war jene, als Russland die Ukraine erobert hatte und Gelehrte, Priester, Künstler und Ausstatter aus der Ukraine in den Kreml kamen. Sie brachten Russland dazu, sich nach Westen zu orientieren und bereiteten den Weg für Peter den Großen. Als er im 18. Jahrhundert kam, änderte sich alles. Das veranlasst viele Russen, der Ukraine eine wichtige Rolle beizumessen und sie als Inspiration für die Modernisierung Russlands zu sehen.

Auch heute noch?
Wir sehen die Ukraine gegenwärtig nicht in ihrer vollen Pracht. Stalin ließ die ukrainische Intelligenz ermorden. Wir sehen eine zerstörte und brutalisierte Ukraine, die im letzten Jahrhundert eine verzweifelte Geschichte hatte. Aber wenn wir ein wenig nach vorne schauen und der Ukraine bei ihrem Wiederaufbau helfen, dann könnte sie eine kulturelle Brücke sein zwischen Ost und West.

Trotz Ihrer vielen Besuche im Kreml durften Sie nicht alles sehen. Worin liegt der Grund, dass selbst Ihnen als Historikerin der Zugang zu vielem verwehrt wurde?
Ich bezweifle, dass es mir erlaubt würde, im Pentagon frei herumzugehen. Ich glaube auch nicht, dass ich die versteckten Gänge unter Downing Street 10 in meinem demokratischen London sehen dürfte. Der Kreml ist nicht nur ein Palast. Er ist das Zentrum eines Staates. Das ist mehr als der Amtssitz eines Präsidenten. Er ist auch ein Militärstützpunkt und ein Zentrum für Überwachung und Spionage. An einem solchen Ort kann man nicht frei herumwandern. Dennoch gibt es Plätze, die ich als Historikerin gerne sehen würde. Das sind die weniger prachtvollen Stellen und die Korridore unter der Erde, die zu seltsamen Türen führen, hinter denen streng verschlossene, unerforschte Räume liegen. Niemand hat den Kreml zur Gänze erforscht. Auch diejenigen, die darin arbeiten, wissen nicht alles über ihn.

Ist Ihnen der Kreml immer noch geheimnisvoll?
Ein Geheimnis ist er nicht mehr. Dafür empfinde ich ihn noch faszinierender, als ich anfangs dachte. Als ich das Projekt begann, hatte ich Angst, es nicht zu bewältigen. Ich schaute Abbildungen des Kremls aus dem 18. und 17. Jahrhundert oder aus noch früherer Zeit an, und ich wusste nicht, wo die Gebäude waren. Der Kreml, den ich kannte, sah so anders aus. Jetzt kenne ich seine Geschichte und verstehe jedes Bild. Aber seine Faszination ist geblieben.

Catherine Merridale unternahm zahlreiche Reisen nach Russland. Für ihre Dissertation über die Kommunistische Partei unter Stalin arbeitete sie an der Universität Moskau. 1987 wurde sie in Cambridge promoviert und war anschließend Dozentin am King’s College in Cambridge. Ab 1993 war sie Professorin für Geschichte an der Universität Bristol, und seit 2004 lehrt sie an der Queen Mary University in London.

Auf Deutsch erschienen von ihr die Bücher: „Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland“ (München 2001), „Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945“ (Frankfurt am Main 2006) und „Der Kreml. Eine neue Geschichte Russlands“ (Frankfurt am Main 2014), für das sie den Pushkin House Russian Book Prize bekam.

Ruth Renée Reif

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