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Kultur: Putschversuch in Moskau: Vor zehn Jahren: Das Volk schlägt zurück

Vor zehn Jahren ging eine Epoche - abrupt - zu Ende: die der Sowjetmacht. Doch kaum jemand wusste es.

Vor zehn Jahren ging eine Epoche - abrupt - zu Ende: die der Sowjetmacht. Doch kaum jemand wusste es. Zunächst schienen sich die Befürchtungen von Pessimisten bestätigt zu haben: In den frühen Morgenstunden des 19. August 1991 übernahm ein achtköpfiges "Notstandskomitee" konservativer KP-Funktionäre unter dem Politbüromitglied und bis dahin Vizepräsidenten Genadij Janajew die Macht in Moskau und setzte Staatspräsident Michail Gorbatschow in seinem Urlaubsort auf der Krim unter Hausarrest. Durch die Reformpolitik sei das Land "unregierbar" geworden, Gorbatschow selbst sei außerdem "aus Gesundheitsgründen" nicht in der Lage, sein Amt weiter auszuführen, lautete die offizielle Verlautbarung. Die Putschisten, denen sich konservative Militärs anschlossen, verhängten für "sechs Monate" einen Ausnahmezustand über die Hauptstadt und über Sankt Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Erinnerungen an Budapest 1956 und Prag 1968 wurden wach. Schon seit dem Beginn der friedlichen Demontage des Sowjetblocks zur Jahreswende 1989/90, der schrittweisen Entlassung der Staaten Mittel- und Südosteuropas aus der Geiselhaft Moskaus, gab es vielfach die unterschwellige Angst, der alte Machtapparat im Kreml werde die innen- und außenpolitische Perestrojka Gorbatschows nicht ohne weiteres hinnehmen. Grafik: Die zwölf GUS-Mitglieder Der letzte Funke, der das Moskauer Pulverfass zur Explosion brachte, war die Entschlossenheit der drei baltischen Staaten, die 50-jährige sowjetische Besatzung zu beenden. In den Wochen vor dem Staatsstreich mehrten sich brutale Überfälle auf die seit 1990 errichteten Zollstationen der Balten durch Schlägertrupps des KGB. Nach dem letzten derartigen Zwischenfall, bei dem am 30. Juli 1991 sieben litauische Grenzbeamte ermordet wurden, verurteilte Gorbatschow diese Gewalt zum ersten Mal offen aufs Schärfste und zog die Untersuchungen an sich. Vor allem die US-Regierung von Präsident George Bush machte Druck auf die Sowjetführung, mit Litauen, Lettland und Estland über die Wiederherstellung der infolge des so genannten HitlerStalin-Pakts verlorenen Unabhängigkeit zu verhandeln. In ihrem Versuch, den Gang der Dinge zu stoppen, stellten die Putschisten in einem ihrer Erlasse die baltischen Staaten unter eine direkte Militärverwaltung.

Doch die Betonköpfe haben mit einer Folgeerscheinung der Perestrojka nicht gerechnet: mit dem Widerstand der erwachten Öffentlichkeit. Angeführt von dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin gingen Hunderttausende in den großen Städten aus Protest gegen den Staatsstreich auf die Straße, mit einem Generalstreik wurde die Solidarität mit Gorbatschow zum Ausdruck gebracht. Jelzin selbst stellte in einem "Antiputscherlass" das Befolgen der Befehle der selbst ernannten Machthaber auf dem Territorium Russlands unter Strafe. Ausgerechnet am 21. August erinnerten die Fernsehbilder aus Moskau an Prag 1968: Panzer fuhren gegen eine Demonstrantenmenge auf, die die Fahnen mit der russischen Trikolore schwenkte. Es gab Tote und Verletzte. Das russische Fernsehen zeigte Barrikaden in der Hauptstadt und einen Jelzin als Volkstribun, der auf einem erbeuteten Panzer stehend einen leidenschaftlichen Appel an die Bürger richtet, die Freiheit zu verteidigen.

All dies hat seine Wirkung nicht verfehlt. Der von Anfang an ohnehin uneinige Sicherheitsapparat distanzierte sich von dem Umsturz, die Streitkräfte stellten sich auf die Seite des Reformlagers. Am 22. August war der Spuk vorbei, die Putschisten wurden festgenommen. Ihr Staatsstreich hat genau das Gegenteil ihrer Ziele bewirkt: Er hat den Untergang des Sowjetsystems beschleunigt. Staatspräsident Gorbatschow, nach Moskau zurückgekehrt, trat als Generalsekretär der KPdSU zurück und empfahl ihre Selbstauflösung. Die drei baltischen Staaten erklärten noch während der Putschwirren ihren Austritt aus der Sowjetunion. In der letzten Augustwoche wurden sie von der internationalen Gemeinschaft diplomatisch anerkannt, ihre Unabhängigkeit durch ein Dekret Gorbatschows Anfang September besiegelt. Die Sowjetrepubliken, die sich danach ebenfalls für unabhängig erklärten, lösten die Zwangsunion auf und gründeten Anfang Dezember als Nachfolgeorganisation die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Die einst übermächtige UdSSR hörte Ende Dezember auf zu existieren.

Alexander Loesch

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