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Foto: p-a/dpa/Schindler

© picture-alliance/ ZB

Kultur: Qualm über Mitte

Die Freiheit des Einsamen: eine Erinnerung an den Berliner Medientheoretiker Friedrich Kittler

Unmittelbar hinter den von Touristenströmen durchzogenen Hackeschen Höfen liegt die Sophienstraße, deren Häuser zwei Stockwerke unter der gründerzeitlichen Traufhöhe bleiben und damit eine für diese Stadt untypische historische Tiefe ausstrahlen. Wer durch die Sophienstraße geht, findet sich unvermittelt im 18. Jahrhundert wieder. Die Sophienkirche hat den einzigen erhaltenen barocken Kirchturm. Sie erinnert an Prag oder Wien, nicht aber an Berlin.

Nur wenige verirren sich in den zweiten Hinterhof der Sophienstraße 22a, erwartet man an dieser Stelle doch keine weitläufigen Hinterhöfe. Hier befindet sich seit 1993 auch das Institut für Kulturwissenschaft, das nach der Wende unter Hans Robert Jauß neu gegründet wurde, um ein disziplinübergreifendes Fach zu etablieren, das die postmodernen Strömungen bündeln sollte, in deren Fahrwasser die textfixierten Philologien unter medientheoretischen und kulturhistorischen Begründungszwang geraten waren.

Im alten Westen gab es ein massives Aufbrechen der philologischen Disziplinen, aber kein eigenes Fach Kulturwissenschaft. Im alten Osten dagegen existierte seit 1963 eine Kulturwissenschaft, die aus der philosophischen Ästhetik hervorgegangen war. Was in der Sophienstraße vor knapp 20 Jahren realisiert wurde, war das erste und bisher einzige Fach Kulturwissenschaft im emphatischen Singular. Dass es bis heute durchschlagenden Erfolg hat, liegt zu allererst an den beteiligten Personen. Hartmut Böhme, Christina von Braun, Thomas Macho und eben der im Sommer 2009 emeritierte Friedrich Kittler waren gemeinsam mit Karin Hirdina und Renate Reschke seine Gründungsforscher.

Ich kam im März 2000 als Assistent von Thomas Macho in die Sophienstraße. Unsere Büros lagen damals im dritten Stock. Darüber – oder wie es damals weder ganz neid- noch ironiefrei hieß, im Zenith – befand sich der legendäre vierte Stock. Im ganzen Haus herrschte Rauchverbot. Zwar hielt sich niemand wirklich daran, doch wurde bei uns eher verstohlen geraucht. Programmatisch dagegen qualmte es in Friedrich Kittlers Büro, das zugleich Seminarraum war. Legendär waren seine Oberseminare, in denen man Assembler programmierte oder Lacan las und dabei vor lauter Zigarettenrauch kaum sein Gegenüber erkannte.

Meine erste Begegnung mit Friedrich Kittler fand nach einer gemeinsamen Prüfung statt. Wir unterhielten uns beiläufig über die Funktionsweise von Transistoren. Zahllose Jugendtage hatte ich mit einem Lötkolben verbracht, um elektronische Bauteile von Flohmarktplatinen auszulöten und in einer anderen Kombination wieder aufzulöten. Schnell waren wir uns einig: Elektronik ist ein kombinatorisches Spiel, bei dem Ströme so gelenkt werden, dass man Signale verstärken, speichern oder modulieren kann.

Für mich hatte die Tatsache, dass Maschinen elektrische Signale genauso prozessieren wie Wörter oder Musik, nie etwas Esoterisches. Einen ontologischen Unterschied zwischen der Arbeit eines Elektronikers, Programmierers oder Autors gab es für mich nicht. Folglich fand ich auch den berühmten Satz Friedrich Kittlers „Nur was schaltbar ist, ist überhaupt“ nicht wirklich schockierend. Vielmehr unterhielten wir uns mit gemeinsamer Verwunderung darüber, dass manche Geisteswissenschaften noch immer nicht begriffen haben, dass Wörter mehr als bloße Symbole sind.

Friedrich Kittler brachte die Materialität in die Geisteswissenschaften zurück, weshalb er zugleich ein anstößiger Theoretiker wie ein unangreifbarer Historiker war. Seine medientheoretischen Paukenschläge erregten immer wieder internationale Aufmerksamkeit. Und sie verhallten nicht einfach so, sondern waren dank ihrer historischen Untermauerung bleibende Impulse. Eine Medientheorie, in der es keine Software jenseits der maschinellen Hardware gibt, und das meint ebenso Texte und Schriften, kann sich nur in einem Raum entwickeln, in dem sich neben den Schriften der antiken Philosophie, neben Hegel, Heidegger, Nietzsche, Freud, Foucault und Lacan auch ein Lötkolben, ein Grammophon, eine Schreibmaschine und vor allem ein aufgeschraubter Computer befindet. Kittler schrieb und programmierte, er programmierte und schrieb.

Einen solchen Raum gibt es im disziplinären Selbstverständnis moderner Universitäten eigentlich nicht. Und genau in diesem Sinne ist die Humboldt-Universität zu Berlin keine moderne Universität. Sie erlaubt es ihren Forschern, auf ihren Schreibtischen Dinge miteinander in Verbindung zu bringen, die das 20. Jahrhundert längst in unterschiedliche Wissensgebiete ausdifferenziert hat. Friedrich Kittler war deshalb ein großer Kulturwissenschaftler, weil er sich diesem Zwang der Moderne entzog – und vielleicht deshalb in seinen letzten Lebensjahren zu den Griechen zurückfand. Er war ein Forscher, auf den Helmut Schelskys wiederum auf Wilhelm von Humboldt zurückgehende Formel „Einsamkeit und Freiheit“ passgenau zutraf.

In der Sophienstraße hatte Friedrich Kittler die Freiheit, Kulturwissenschaft so radikal interdisziplinär zu denken, dass ihn dieses Denken einsam machte. Auf dem Höhepunkt seiner medientheoretischen Erfolge beschloss er die Auflösung der „Berliner Schule der Medientheorie“, um sich einsam den Griechen, der Mathematik, der Musik und der Liebe zuzuwenden.

Der Autor ist seit 2006 Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität. Die Trauerfeier für Friedrich Kittler findet am Freitag, den 11.11., um 15 Uhr im Krematorium Baumschulenweg (Kiefholzstraße 221) in Berlin-Treptow statt.

Christian Kassung

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