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Buchcover von Raija Siekkinens "Wie Liebe entsteht".

© promo / Verlag

Raija Siekkinens Erzählband „Wie Liebe entsteht“: Schwarze Sonne

Raija Siekkinen erzählt in „Wie Liebe entsteht“ weniger vom Entstehen der Liebe, als von ihrem Vergehen - dunkel und leicht zugleich. Nun wurde der Klassiker der finnischen Prosa ins Deutsche übertragen.

Alles ist von einer glasklaren Durchlässigkeit in diesen Geschichten – und doch sind sie dunkel wie die Nacht. Wer sich in den Erzählkosmos Raija Siekkinens begibt, macht eine merkwürdige Erfahrung: dass Worte tatsächlich ein Gewicht haben und sich zusammenklumpen können wie dunkle Materie. Die Sprache der früh verstorbenen Schriftstellerin ist hell wie der Mittsommer. Ihr Stil wirkt leicht. Die Situationen, in die sie ihre Heldinnen stellt, sind alltäglich. Und doch kommt es in jeder der zehn kurzen Geschichten zu einer Wendung, die so schwer wiegt, dass die Frauen ihr Leben für verfehlt halten müssen. Dabei hat es niemals richtig begonnen.

In der Titelgeschichte entdeckt die Heldin, dass sie zwar lange jung gewesen ist, dass aber die „mittleren Jahre“ ausgefallen sind und sie sich längst im „Loslassen“ übt. Ihr Mann erklärt ihr ausgerechnet an jenem Tag seine Liebe, an dem ihr klar geworden ist, dass sie ihn nicht mehr liebt. Sein lächelndes Gesicht im Schlaf hat das lange vergessene Bild seines Gesichtsausdrucks in ihr Bewusstsein gespült, als er ihr vor Jahren erzählte, dass er eine Affäre hatte, die mit einer Abtreibung endete.

Siekkinen erzählt mehr vom Vergehen als vom Entstehen der Liebe

Eher vom Vergehen oder vom Ausbleiben der Liebe als von ihrer Entstehung erzählen die Geschichten dieses von Elina Kritzokat vorzüglich ins Deutsche übertragenen Erzählbandes, der 1991 im Original erschien. Der Funke Illusion, der zur Liebe gehört, kann sich meist gar nicht entzünden. Die weiblichen Hauptfiguren sind so illusionslos, dass ihnen die Liebe wie schlechtes Theater erscheint. „Liebe, Treue, Eifersucht“ sind aus der Mode gekommene Wörter. Das fällt einer Finnin auf, als sie einer Spanierin erzählt, dass sie beinahe vergewaltigt wurde. Die seltsame „Freude“, die sie dabei empfunden hat, verschweigt sie lieber: Erstmals konnte sie in den Augen eines Mannes „pure, blanke Lust“ erwecken.

„Die schwarze Sonne“ der Melancholie schwebt als finsteres Zentralgestirn über vielen Erzählungen. Auch wenn die wirkliche Sonne strahlend am Himmel steht, hellt sie das Gemüt der Heldinnen nicht auf. Aus dem Widerspruch zwischen innerer Wahrnehmung und Außenwelt gewinnt Siekkinen die Energie ihrer Prosa. Das ist ein erstaunliches Kunststück. Denn sie erzählt immer aus der Perspektive ihrer weiblichen Hauptfiguren, mal in der ersten, mal in der dritten Person. Während das Setting fast kammerspielartig umrissen ist und die Handlung wie am Schnürchen abläuft, verklumpt sich in den reflexiven Passagen das Leben der Hauptfiguren zu einem unentwirrbaren Knäuel. Ihr Leben erscheint ihnen wie eine „Falle“. Die Zeit rinnt ihnen durch die Finger oder dehnt sich entsetzlich. Ihr Vergehen führt zu keinem Lebenslauf, nur zum Räderwerk der Wiederholung.

Das Wunder Siekkinens Prosa

Es macht den verstörenden Reiz dieser Erzählungen aus, dass sie den Seelenzustand der Figuren nicht aufwendig entfalten, sondern auf engstem Raum zusammenpressen. So bilden sie die Ausdehnungsstörung nach, die man als Depression bezeichnen kann. Dass dies in einer Sprache geschieht, deren illusionslose Klarheit geradezu leuchtet, ist das eigentliche Wunder dieser Prosa.

Raija Siekkinen hat neun Erzählungsbände und mehrere Romane geschrieben, bevor sie 2004 mit fünfzig Jahren bei einem Wohnungsbrand nachts im Schlaf ums Leben kam.

Raija Siekkinen: Wie Liebe entsteht. Zehn kurze Geschichten. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Dörlemann Verlag, Zürich 2014, 176 Seiten, 16,90 €.

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