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Die Große Synagoge von Budapest. Als Raoul Wallenberg im Juli 1944 ankam, waren die Deportationen bereits in vollem Gang

© IMAGO

Raoul Wallenberg: Der Schutzmann von Budapest

Vor 100 Jahren wurde Raoul Wallenberg geboren. In der Nazi-Zeit rettete der schwedische Diplomat zehntausende ungarischer Juden. Deren Nachfahren werden heute attackiert. Eine Spurensuche.

Ganze sechs Monate hat Raoul Wallenberg 1944 als Sekretär der schwedischen Gesandtschaft in Budapest gewirkt. Dann verschleppten ihn Sowjet-Soldaten. Doch genügte dem Diplomaten diese kurze Zeitspanne, um ein System aus „Schwedischen Schutzpässen“ und Schutzhäusern zu erfinden und tausende Juden vor der Deportation zu retten.

Zu seinem 100. Geburtstag am 4. August meldet sich nun sogar Barack Obama zu Wort. „Als die Juden in Budapest mit dem gelben Stern gezeichnet wurden, hat Raoul Wallenberg ihnen Schutz hinter der blaugelben schwedischen Flagge gegeben. Als sie in Züge für die Lager gepfercht wurden, hat er sie herausgeholt. Als sie auf Todesmärsche geschickt wurden, ist er ihnen mit Essen und Wasser gefolgt, das Leben rettete“, sagt der US-Präsident über Wallenberg, dem 1981 als zweitem Nicht-Amerikaner nach Winston Churchill die Ehrenbürgerschaft der USA zuerkannt wurde.

Budapest feiert das Wallenberg-Jahr, New York bekommt am Samstag eine „Raoul Wallenberg Avenue“, Stockholm ein Wallenberg-Denkmal und Berlin-Wilmersdorf eine neue Wallenberg-Büste an der Vaterunser-Kirche, unweit der 1967 so benannten Wallenbergstraße. Die Büste ist ein Werk des Künstlers Peter Bulow, dessen Familie die Schoah in Budapest überlebte. Genau dort sehen sich die Nachfahren der geretteten Juden jedoch zunehmend Attacken ausgesetzt.

Das Zentrum der Jüdischen Gemeinde in Budapest ist die Große Synagoge, ein 1859 im Maurischen Stil erbautes Monumentalbauwerk. Mit Platz für 6000 Gläubige ist sie die größte operierende Synagoge Europas, innen dominieren Rundbögen und golden glänzender Kerzenschein, von außen erinnert sie an die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin. 1944 wurde sie als Pferdestall missbraucht, „weil Pferde damals wichtiger waren als Menschen“, sagt Rabbi Robert Fröhlich. Der kleine Mann mit der randlosen Intellektuellenbrille ist ein humoriger Gesprächspartner. Einer, der bedauert, dass die Synagoge meistens schwach besucht ist und im selben Atemzug erzählt, dass er selten den Mittelgang nehme, wegen der beiden schweren Deckenleuchten, auch in einem Gotteshaus wisse man ja nie, was von oben so runterkommt.

Ungefähr 150 000 Juden leben heute in Ungarn. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es 800 000. Fragt man Gemeindemitglieder im ehemaligen jüdischen Ghetto, heute ein gediegenes Szeneviertel im Zentrum Budapests, ist der Tenor unterschiedlich. „Das Problem sind nicht die Gesetzesänderungen. Sondern die feindselige Stimmung gegenüber allem Fremden, die Fidesz fördert,“ sagt ein junger Mann im orthodoxen Gewand über die rechtsnationale Regierungspartei.

„Unser Alltag wird nicht von Antisemitismus bestimmt“, meint Rabbi Fröhlich. Am stärksten sei der in Ungarn ohnehin auf dem Land, wo es kaum Juden gebe, dafür umso mehr Anhänger der rechtsradikalen Jobbik-Partei. „Das beweist, dass Antisemitismus wunderbar ohne Juden auskommt“, sagt er. Die offizielle Politik von Fidesz und dem autoritären Ministerpräsidenten Viktor Orban sei nicht der Grund für den neu entflammten Antisemitismus; die Hilfen für jüdische Gemeinden seien nicht gekürzt worden. Noch im Frühjahr sagte Fröhlich: „Bis jetzt leiden unsere Gemeindemitglieder unter verbalen Attacken, aber ich befürchte, dass es auch zu körperlicher Gewalt kommen wird.“

Seitdem ist ein alter Jude in der Nähe der Großen Synagoge zusammengeschlagen worden, und israelische Touristen fanden beim Besuch des Wallenberg-Denkmals hinter der Synagoge Schweineklauen an der Statue vor – eine Schändung im Stil ungarischer Neonazis. Wenig später wurde der frühere Oberrabbiner Jozsef Schweitzer auf der Straße von Unbekannten mit antisemitischen Schmähungen attackiert. Ungarns Staatspräsident verurteilte den Vorfall und besuchte den 89-jährigen Geistlichen. Trotzdem kam es wegen dieser und anderer Vorfälle zum diplomatischen Eklat, als Israel Ungarns Parlamentspräsidenten Laszlo Köver bei einer Gedenkveranstaltung für Wallenberg wieder auslud.

Die Umstände von dessen Tod sind bis heute ungeklärt. Die beiden gängigsten Versionen lauten, dass Wallenberg 1947 in sowjetischer Gefangenschaft im berüchtigten Moskauer Gefängnis Ljubjanka an einem Herzinfarkt gestorben ist oder dort ermordet wurde. Doch immer wieder haben sich in den letzten Jahrzehnten Menschen gemeldet, die Wallenberg in sowjetischen Lagern gesehen haben wollen, teilweise viele Jahre nach 1947.

Nebulös bleibt auch der Grund von Wallenbergs Verhaftung durch die Sowjets. Manche sagen, die Russen verdächtigten den Diplomaten der Spionage für den US-Geheimdienst OSS, den Vorgänger der CIA. In einer neuen Wallenberg-Biografie schreibt der Publizist Bengt Jangfeldt wiederum, Rotarmisten hätten den Schweden mit 15 Kilogramm Gold und Schmuck im Auto angetroffen, die er für verfolgte Juden in Sicherheit bringen wollte. Jangfeldt sagte dazu im „Svenska Dagbladet“: „Die Russen gingen wohl davon aus, dass Wallenberg der Roten Armee Nazi-Gold vorenthalten wollte.“ Wallenbergs Familie, damals eine der wohlhabendsten Schwedens, unternahm wenig zur Aufklärung. Sie wollte wohl die neue Weltmacht Sowjetunion nicht verärgern und die eigenen Geschäfte mit der deutschen Nazi-Kriegswirtschaft nicht ins Rampenlicht rücken. Während der Schutzmann von Budapest an diesem Wochenende weltweit gewürdigt wird, müssen die Nachfahren der von Wallenberg geretteten Juden in Ungarn wieder um ihre Stellung in der Gesellschaft kämpfen. Mehr noch, fürchten sie Gefahr für ihr Leib und Leben.

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